Sie prallte zurück, mit den Händen hinter sich tastend. Er folgte ihr, sie schwang sich auf die Brüstung, kauerte sich in die Zinne, hielt sich am äußersten Rand der Mauer, Haupt und Schulter über dem Abgrund schon. Der Wind erfaßte den Schleier, den sie um den Kopf trug und ließ ihn wehen wie eine Fahne. Der Mönch blieb stehen, ihr Auge bannte ihn. Sein Blick war ununterbrochen auf sie geheftet, doch wagte er sich nicht zu rühren, denn ihre Miene verkündete ihren Entschluß: bei der ersten Bewegung, die er gegen sie machte, gab es für sie nur noch den Sturz in die Tiefe.

Trotzdem loderte in seinen Augen das wütendste Verlangen.

Stunde auf Stunde verfloß. Der Mönch stand da wie aus Erz, und sie kauerte auf der Zinne mit wehendem Schleier und sonst regungslos und hielt ihn fest im Auge gleich einem Wolf. Der Himmel bedeckte sich mit Sternen; von Zeit zu Zeit sandte sie einen sekundenschnellen Blick hinauf ins Firmament. So nah war sie dem ewigen Feuer nie gewesen; sie hörte die Millionen Welten melodisch in ihrer Bahn schwingen; mit gelähmten Gliedern flog sie; die Hände, die um den Stein geklammert waren, trugen die diamantene Decke des Kosmos, und da unten war die Kreatur, erfüllt von ihrer Leidenschaft, die blinde Kreatur, einem Gott verdungen, den sie belog.

Allmählich erhellte sich der Rand des Himmels, und Vögel flatterten auf. Da warf sich Bruder Leotade zur Erde und fing an laut zu beten. Und je lichter der Osten wurde, je lauter betete er. Auf dem Bauche kroch er zur Treppe hin, dann richtete er sich auf und verschwand.

Sie sah ihn unten aus der Pforte treten, und mit dem ersten Schein der Sonne verlor er sich zwischen den Weinbergen. Eva lag noch lange matt und betäubt unten im Gras, bevor sie fähig war, zur Stadt zu gehen.

»Es hätte sein können,« so schloß sie ihre Erzählung, »daß mir einer vom Sirius her zugeschaut hat, einer, der bald kommt und vielleicht mein Freund sein wird.« Sie lächelte.

»Vom Sirius?« ließ sich Susannes Stimme vernehmen; »und woher wird er Perlen haben und Diademe? Und welche Kronen wird er dir anbieten, welche Provinzen? Wir wollen uns nicht mit Habenichtsen einlassen, nicht einmal, wenn sie vom Himmel kommen.«

»Still, du Sancho Pansa,« wehrte Eva ab; »er muß wunderbar lachen können, das ist alles, was ich verlange. Er muß lachen können wie jener junge Eseltreiber in Cordova, erinnerst du dich? Er muß so lachen können, daß ich meinen Ehrgeiz vergesse.«

Da ist eine Tugend, die nicht um Pfennige betteln geht, dachte Crammon und beschloß, auf der Hut zu sein und sich beizeiten in Sicherheit zu bringen. Denn in seiner Brust verspürte er ein neues, unbekanntes, trauriges Brennen, und er wußte, daß er keineswegs imstande war, zu lachen wie die jungen Eseltreiber in Cordova; keineswegs so, daß eine Ehrgeizige ihren Ehrgeiz vergaß.

 

5

 

Felix Imhof kam und mit ihm Wolfgang Wahnschaffe, ein hochaufgeschossener junger Mann von zweiundzwanzig Jahren. Er trat mit der Eleganz auf, die ihm seine fast unbeschränkten Mittel erlaubten. Sein Vater war einer der großen Maschinenindustriellen Deutschlands.

Crammons Absage hatte ihn verdrossen, und er wollte sich seiner versichern. Es war die Art der Wahnschaffes, daß sie gerade das am stärksten begehrten, was sich ihnen entzog.

Sie gingen ins Theater Sapajou, und Felix Imhof fand die Tänzerin unvergleichlich. Sofort spritzten Pläne aus seinem Hirn wie Funken aus glühendem Eisen, das man hämmert. Er wollte eine Akademie der Tanzkunst gründen, einen Impresario zu einer Reise durch Europa dingen, eine Pantomime verfassen, alles womöglich zwischen morgen und übermorgen.

Sie saßen zusammen und tranken viel; zuerst Wein, dann Sekt, dann Ale, dann Whisky, dann Kaffee, dann wieder Wein. Auf Imhof übte das Zechen nicht die mindeste Wirkung; er war schon im nüchternen Zustand so wie andre Menschen, wenn sie berauscht sind.

Er schwärmte von Gauguin, von Schiller, von Balzac und entwickelte das Projekt einer Menschenzuchtschule; die erlesensten Exemplare von Männern und Weibern sollten verheiratet werden und ein arkadisches Geschlecht erzeugen.

Dazwischen zitierte er Verse von Keats und Stellen aus Rabelais, mischte Schnäpse auf zehnerlei Arten und erzählte ein Dutzend saftige Anekdoten aus seiner Lebemannserfahrung. Sein Mund mit den sinnlichen Lippen barst von Superlativen, seine hervorquellenden Negeraugen sprühten Geist und Laune, und der hagere, sehnige Körper litt, wenn er für einige Minuten zur Unbeweglichkeit verurteilt war.

Den beiden andern fielen vor Müdigkeit die Augen zu, er aber wurde immer munterer, immer lärmender, fuchtelte mit den Händen, schlug auf den Tisch, schlürfte begeistert die verräucherte Luft ein und lachte mit dem Baß eines Riesen.

So ging es fünf Nächte hintereinander, da wurde es Crammon zu viel, und er beschloß abzureisen. Wolfgang Wahnschaffe hatte ihn aufgefordert, ihn zur Jagd nach Waldleiningen zu begleiten.

Es war vormittags um elf Uhr, als Felix Imhof zu Crammon kam. In der Mitte des Zimmers stand der große Reisekoffer mit offenem Deckel. Wäsche, Kleider, Bücher, Schuhe, Krawatten waren auf dem Boden verstreut wie aus einer Feuersbrunst gerettete Habseligkeiten. Vor den Fenstern wogten gelbflammend die Baumwipfel des Parks Monceau.

Crammon saß nackt, nur mit ein Paar langen Strümpfen an den Beinen, in einem Lehnstuhl. Er hatte nackt gefrühstückt und schaute düster vor sich hin. Der viereckige, gotische Kopf und der breitgebaute, muskulöse Rumpf waren wie aus Bronze.

Felix Imhof hatte den Tag zuvor die Bekanntschaft Cardillacs gemacht, des Pariser Börsenkönigs, und war jetzt wieder auf dem Weg zu ihm. Er wollte sich an einer der Unternehmungen Cardillacs mit zwei Millionen beteiligen und fragte Crammon im Vorübergehen, ob er nicht auch Lust habe, eine Summe zu wagen; eine Kleinigkeit genüge, fünfzigtausend Franken; unter den Händen des Zauberers verdoppelten sie sich in drei Tagen, dann habe man den Genuß von Einsatz und Erwartung gehabt.

Er sagte: »Dieser Cardillac ist ein Phänomen. Der Mann hat als Laufbursche in einem Bahnhofshotel begonnen, jetzt ist er Hauptaktionär von siebenunddreißig Aktiengesellschaften, Gründer der spanisch-französischen Bank, Besitzer der Zinkminen von La Nere, Gebieter eines ganzen Stocks von Zeitungen und Herr eines Vermögens von Hunderten von Millionen.«

Crammon erhob sich, zog aus dem Kleiderhaufen auf dem Boden einen violettfarbenen Schlafrock und hüllte sich fröstelnd darein. Nun sah er aus wie ein Kardinal.

»Ist dir vielleicht zufällig bekannt,« fragte er schläfrig sinnend, »oder hast du einmal gesehen, wie die jungen Eseltreiber in Cordova lachen?«

Imhofs Gesicht wurde vor Erstaunen dumm.