Dämmerschlaf - Roman

EDITH WHARTON
Dämmerschlaf
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt
von Andrea Ott
Nachwort von Verena Lueken
MANESSE VERLAG
ZÜRICH
Titel der amerikanischen Ausgabe:
«Twilight Sleep» (1927)
Übersetzerin und Verlag danken dem Deutschen Übersetzerfonds e.V.
für die Förderung dieser Übersetzung.
Copyright © 2013 by Manesse Verlag, Zürich,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln,
ISBN 978-3-641-11374-2
www.manesse.ch
INHALT
Dämmerschlaf
Erster Teil
Zweiter Teil
Dritter Teil
Anmerkungen
Nachwort
Editorische Notiz
ERSTER TEIL
1
Miss Bruss, die perfekte Sekretärin, empfing Nona Manford an der Tür zum Boudoir ihrer Mutter (dem «Büro», wie es Mrs Manfords Kinder nannten) mit einer Geste liebenswürdigster Zurückweisung.
«Natürlich möchte sie, Liebes – Ihre Mutter möchte Sie immer sehen», erklärte Miss Bruss mit vom ständigen Telefonieren abgewetzter, schneidender Stimme. Miss Bruss, die kurz nach Mrs Manfords zweiter Eheschließung in deren Dienste getreten war, kannte Nona von Kind an und genoss das Recht, sie selbst jetzt, wo sie schon in die Gesellschaft eingeführt war, mit einer gewissen wohlwollenden Vertraulichkeit behandeln zu dürfen. Wohlwollen gehörte zum Stil des Manford’schen Hauses.
«Aber schauen Sie sich ihren Terminkalender an, allein den heutigen Vormittag!», fuhr die Sekretärin fort und reichte Nona ein großes, in Saffianleder gebundenes Notizbuch, in dem in schnörkelloser Sekretärinnenhandschrift eingetragen stand:
«7.30: Mentales Verjüngungstraining
7.45: Frühstück
8.00: Psychoanalyse
8.15: Besprechung Köchin
8.30: Stilles Meditieren
8.45: Gesichtsmassage
9.00: Mann mit persischen Miniaturen
9.15: Post
9.30: Maniküre
9.45: Eurythmische1 Übungen
10.00: Ondulieren
10.15: Modellsitzen
10.30: Empfang der Muttertagsabordnung
11.00: Tanzunterricht
11.30: Geburtenregelungskomitee bei Mrs X»
«Jetzt ist gerade die Maniküre da, wie immer zu spät. Ihre Mutter leidet entsetzlich darunter, dass alle so unpünktlich sind. Dieser New Yorker Lebensstil bringt sie noch um.»
«Ich bin nicht unpünktlich», sagte Nona Manford, gegen den Türrahmen gelehnt.
«Nein, und das ist doppelt verwunderlich. Wo ihr jungen Mädchen die ganze Nacht durchtanzt! Sie und Lita – Sie haben wirklich Ihren Spaß!» Miss Bruss schlug einen geradezu mütterlichen Ton an. «Aber schauen Sie doch einmal diese Liste durch. Sie sehen ja, Ihre Mutter rechnet nicht vor dem Lunch mit Ihnen.»
Nona schüttelte den Kopf. «Nein. Aber vielleicht können Sie mich dazwischenquetschen.»
Sie sprach in freundlichem, sachlichem Ton; beide Seiten prüften die Angelegenheit, spürbar bemüht um Unvoreingenommenheit und Verständigungsbereitschaft. Nona war an die Termine ihrer Mutter gewöhnt; war daran gewöhnt, dass sie zwischen Gesundbeter, Kunsthändler, Sozialarbeiter und Maniküren gequetscht wurde. Sobald Mrs Manford ihre Kinder zu sich kommen ließ, war sie eine perfekte Mutter; aber hätte sie in diesem mörderischen New York mit seinen sich ständig mehrenden Verpflichtungen und Verbindlichkeiten ihrer Familie erlaubt, rund um die Uhr hereinzuplatzen und ihr die Zeit zu stehlen, hätten das ihre Nerven einfach nicht ausgehalten. Und wie viele Pflichten wären dann unerledigt geblieben!
Mrs Manfords Wahlspruch hatte immer gelautet: «Alles hat seine Zeit.» Dennoch gab es Augenblicke, da diese Zuversicht sie im Stich ließ und sie fast glaubte, dass dem nicht so war. Heute Vormittag zum Beispiel, führte Miss Bruss aus, habe sie dem neuen französischen Bildhauer, auf den seit einem Monat ganz New York versessen war, klarmachen müssen, dass sie ihm nicht länger als fünfzehn Minuten Modell sitzen könne, weil sich das Geburtenregelungskomitee um 11.30 Uhr bei Mrs X. treffe.
Nona fand sich zu diesen Treffen selten ein, denn ihre eigene Zeit war – eher durch die Macht der Gewohnheit als aufgrund echter Neigungen – gänzlich von Gymnastik, Sport und der pausenlosen Hetzerei von einem Nervenkitzel zum nächsten in Anspruch genommen, angeblich dem glücklichen Vorrecht der Jugend. Doch sie hatte oft genug einen flüchtigen Blick auf dieses Schauspiel werfen können: auf das Publikum, bestehend aus gescheiten älteren Damen mit schneeweißem Haar und fein zerknitterten, mürbmassierten Gesichtern, die sich eurythmisch bewegten und ihr Lächeln aus glasigem Wohlwollen aufsetzten wie ihr randloses Pincenez2. Sie waren alle von unerbittlichem Ernst, absichtsloser Liebenswürdigkeit und unermesslicher Reinheit und kleideten sich, abgesehen von der jeweiligen «Berühmtheit», die meist schlampig angezogen auftrat, mit Nickelbrille und ungebändigten Haarsträhnen, beinahe zu sorgfältig. Um welches Thema es auch ging, die Damen schienen stets dieselben zu sein; sie vertraten mit stets dem gleichen Eifer die Geburtenregelung und die uneingeschränkte Mutterschaft, die freie Liebe oder die Rückkehr zu den Traditionen der amerikanischen Familie, und weder sie noch Mrs Manford schienen sich klarzumachen, dass diese Lehrmeinungen einander widersprachen. Sie wussten nur, dass sie entschlossen waren, bestimmte Menschen zu zwingen, etwas zu tun, was diese Menschen nicht tun wollten. Nona erinnerte sich beim Blick auf den eng beschriebenen Terminkalender an einen Ausspruch von Arthur Wyant, dem früheren Mann ihrer Mutter: «Deine Mutter und ihre Freundinnen würden gern der ganzen Welt vorschreiben, wie sie ihre Gebete verrichten und sich die Zähne putzen soll.»
Das Mädchen hatte gelacht, wie es immer über Wyants witzige Bemerkungen lachen musste, aber in Wirklichkeit bewunderte sie den Eifer ihrer Mutter, obwohl sie sich manchmal fragte, ob sie ihn nicht ein wenig zu wahllos einsetzte. Nona war die Tochter aus Mrs Manfords zweiter Ehe, und ihr Vater Dexter Manford, der sich nach oben hatte durchboxen müssen, hatte sie gelehrt, schon die Rührigkeit an sich als Tugend zu verehren; wenn er über Paulines Eifer sprach, klang das ganz anders als bei Wyant. Er war dazu erzogen worden, in der Arbeit per se etwas Edles zu sehen, selbst wenn sie ebenso wenig ein sinnvolles Ziel verfolgte wie der Lauf eines Hamsters in seinem Rad. «Vielleicht nimmt sich deine Mutter ein wenig viel vor, aber das ist doch großartig von ihr – sie schont sich nie.»
«Uns auch nicht», fühlte sich Nona manchmal versucht hinzuzufügen, aber Manfords Bewunderung war ansteckend. Ja, Nona bewunderte die uneigennützige Tatkraft ihrer Mutter, doch sie wusste sehr wohl, dass weder sie selbst noch Lita, die Frau ihres Bruders, jemals diesem Beispiel folgen würden – sie genauso wenig wie Lita. Sie gehörten einer anderen Generation an, der verwirrten, desillusionierten Nachkriegsjugend, deren Energien sprunghafter und weniger zielgerichtet waren und die vor allem ein persönlicheres Betätigungsfeld dafür suchte. «Was kümmern mich Erdbeben in Bolivien!», hatte Lita einmal Nona zugeflüstert, als Mrs Manford die gescheiten alten Damen einberufen hatte, um sich mit einer seismischen Katastrophe am anderen Ende der Welt zu befassen, deren Wiederholung sich nach Meinung dieser Damen verhindern ließ, wenn umgehend eine Abordnung entsandt wurde, die den Bolivianern beibrachte, etwas zu tun, was diese nicht tun wollten, zum Beispiel einfach nicht an Erdbeben zu glauben.
Die jungen Leute empfanden jedenfalls kein vergleichbares Verlangen, anderer Leute Angelegenheiten zu ordnen. Warum sollte man den Bolivianern ihre Erdbeben nicht lassen, wenn sie unbedingt in Bolivien leben wollten? Und warum musste Pauline Manford deswegen in New York nachts wach liegen und, um die daraus resultierenden Falten wieder zu glätten, eine Reihe neuer Mahatma-Übungen lernen? «Wir empfinden vermutlich nur deshalb so, weil wir in Wirklichkeit viel zu bequem sind, uns darum zu kümmern», überlegte Nona in ihrer unverbesserlichen Aufrichtigkeit.
Sie wandte sich mit einem leichten Achselzucken von Miss Bruss ab. «Na gut», murmelte sie.
«Sie wissen ja, Liebchen», erlaubte sich Miss Bruss zu bemerken, «mit fortschreitender Saison wird es immer schlimmer, und die letzten beiden Februarwochen sind die schlimmsten, besonders wenn Ostern so früh liegt wie dieses Jahr. Ich begreife nicht, wie man ein dermaßen ungünstiges Datum für Ostern wählen konnte; vielleicht waren das diese Hoteliers in Florida. Heute Morgen hat Ihre arme Mutter noch nicht einmal Ihren Vater gesehen, bevor er in die Stadt fuhr, obwohl sie es für gänzlich verkehrt hält, ihn in die Kanzlei gehen zu lassen, ohne dass man Zeit für einen ruhigen kleinen Plausch gefunden hat… Wenigstens ein fröhliches Wort, um ihn in die richtige Stimmung für den Tag zu versetzen… Ach, übrigens, meine Liebe, haben Sie zufällig gehört, ob er heute Abend zu Hause essen will? Denn er vergisst ja stets, wegen seiner Pläne Bescheid zu geben, und wenn er nichts gesagt hat, rufe ich lieber in der Kanzlei an, um ihn daran zu erinnern, dass heute Abend das große Dinner für die Marchesa stattfindet…»
«Ich glaube nicht, dass Vater zu Hause isst», sagte das Mädchen gleichgültig.
«Nein? Nicht? Ach, du liebe Zeit!», gluckste Miss Bruss und hastete durchs Zimmer zu dem Telefon auf ihrem Schreibtisch.
Der Terminkalender war ihr aus der Hand gerutscht, und Nona Manford hob ihn auf und überflog ihn.
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