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«16.00: Besuch bei A

16.30: Musical, Torfried Lobb»

«‹16.00: Besuch bei A›.» Nona hatte schon befürchtet, dass heute der Tag war, an dem Mrs Manford ihren geschiedenen Ehemann Arthur Wyant besuchte, jenes von der Bildfläche verschwundene, geheimnisvolle Individuum, das in Mrs Manfords Kalender immer als «A» geführt und daher von ihren Kindern «Punkt A» genannt wurde. Das war ziemlich ärgerlich, denn auch Nona hatte vorgehabt, etwa um diese Zeit bei ihm vorbeizuschauen, und sie legte ihre Besuche immer so, dass sie nicht mit denen von Mrs Manford zusammenfielen; nicht weil diese Nonas Freundschaft mit Arthur Wyant missbilligte (sie fand es «wunderbar» von dem Mädchen, dass es ihm so viel Freundlichkeit entgegenbrachte), sondern weil Wyant und Nona der einhelligen Meinung waren, dass ihnen die Anwesenheit der früheren Mrs Wyant den Spaß verdarb. Aber daran ließ sich nun nichts ändern. Mrs Manfords Tagesplan war unumstößlich. Selbst Krankheit und Tod verursachten darin kaum einen leisen Wellenschlag. Man hätte genauso gut versuchen können, eine Pyramide mit einem Sonnenschirm zum Einsturz zu bringen, wie den Gedanken wagen, das eng gefügte Mosaik von Mrs Manfords Terminkalender durcheinanderzubringen. Nicht einmal Mrs Manford selbst hätte dies zuwege gebracht, beim besten Willen nicht, und wie Mrs Manfords Kinder und das ganze Haus wussten, war ihr Wille der beste.

Nona Manford entfernte sich mit einem letzten Achselzucken. Sie hatte mit ihrer Mutter etwas ziemlich Wichtiges besprechen wollen; etwas Erschreckendes, das ihr am Abend zuvor der kurze Einblick in die seltsame, begrenzte, unreife Gedankenwelt ihrer Schwägerin Lita, der Frau ihres Halbbruders Jim Wyant, offenbart hatte – ebenjener Lita, mit der sie, Nona, die Nächte durchtanzte, wie Miss Bruss festgestellt hatte. Niemanden auf Erden liebte Nona so wie diesen sechs oder sieben Jahre älteren Jim, der für sie Bruder, Kamerad, Vormund, ja fast Vater gewesen war – denn ihr eigener Vater, der kluge, tüchtige, freundliche Dexter Manford, hatte fast immer in der Kanzlei zu tun oder wurde, wenn er zu Hause war, zu sehr von Mrs Manford in Anspruch genommen, um seiner Tochter viel Zeit widmen zu können.

Jim, der Gute, hatte immer Zeit; genau darauf spielte seine Mutter zweifellos an, wenn sie ihn als Faulenzer bezeichnete – ein Faulenzer wie sein Vater, hatte sie einmal in einem ihrer seltenen Anfälle von Ungeduld hinzugefügt. Nichts machte Mrs Manford ungeduldiger als der Gedanke, jemand könne auch nur die kleinste Spanne uneingeteilter Zeit haben und diese nicht sofort verplanen. Wenn sie sie wenigstens ihr hätten geben können! Und Jim, der sie liebte und bewunderte (wie die ganze Familie), versuchte stets gewissenhaft, seine Tage zu füllen oder deren gelegentliche Leere vor ihr zu verbergen. Aber irgendwie schien er nie in Eile zu sein, und das kam der kleinen Nona zugute, die immer mit ihm rechnen konnte, sei es, dass er mit ihr ausfuhr oder spazieren ging, sich mit ihr in ein Konzert oder ein «Kintopp» stahl oder, noch schöner, einfach nur da war – müßig in der großen, ungenutzten Bibliothek des Landsitzes Cedarledge saß oder in seinem unaufgeräumten Arbeitszimmer im zweiten Stock des Stadthauses, bereit, Fragen zu beantworten, schwierige Wörter mit ihr im Wörterbuch nachzuschlagen, Golfschläger zu reparieren oder einen Dorn aus der Pfote ihres Sealyham Terriers zu ziehen. Jim hatte wunderbar geschickte Hände: Er konnte Uhren reparieren, mechanisches Spielzeug zum Laufen bringen, bezaubernde Modelle von Häusern oder Gärten bauen, konnte einen Druckverband anbringen, Rühreier zubereiten, die Gäste ihrer Mutter nachahmen – vorzugsweise die «ernsten», die sich in den vergoldeten Salons über «Probleme» oder «Anliegen» verbreiteten – und herrliche bunte Karten von Fantasiekontinenten zeichnen, zu denen Nona endlose Geschichten schrieb. All diese Begabungen hatte er bisher leider nicht besonders genutzt, außer dass er seine kleine Halbschwester damit entzückt hatte.

Bei seinem Vater war es fast genauso gewesen, das wusste Nona. Der arme, unnütze «Punkt A»! Mrs Manford sagte, das liege am «alten New Yorker Blut» – sie sprach von den beiden mit einer Mischung aus Verachtung und Stolz, als handle es sich um die letzten Kapetinger3, erschöpft von tausend Jahren Regentschaft. Ihre eigenen roten Blutkörperchen waren etwas plebejischer getönt. Ihre Vorfahren hatten in Pennsylvania Kohle abgebaut und in Exploit4 Fahrräder hergestellt; heute trug eines der meistverkauften Automobile in den Vereinigten Staaten ihren Namen. Aber auch an anderen Komponenten fehlte es nicht in ihrer Familienfabel: Ihre Mutter, eine Pascal aus Tallahassee, hatte angeblich Südstaatenadel beigesteuert. In entsprechender Stimmung sprach Mrs Manford von den «Pascals aus Tallahassee», als verdanke sie diesen ihre edelsten Wesenszüge; doch wenn sie Jim zu mehr Emsigkeit anhielt, berief sie sich auf das Blut ihres Vaters. «Auch wenn wir von den Pascals abstammen – der Kaufmannsberuf ist schließlich nichts Ehrenrühriges. Der Vater meines Vaters kam mit nichts als zwei Sixpence in der Tasche aus Schottland herüber…» Und dann blickte Mrs Manford mit verzeihlichem Stolz auf den herrlichen Gainsborough5 über dem Kaminsims im Esszimmer (den sie manchmal zu einem Ahnenporträt umzudeuten versucht war) und auf ihre gesunde, stattliche Familie, die um den mit georgianischem6 Silber und Orchideen aus eigenen Treibhäusern geschmückten Tisch saß.

Von der Schwelle aus rief Nona Miss Bruss noch einmal zu: «Bitte sagen Sie meiner Mutter, ich werde zum Lunch wahrscheinlich bei Jim und Lita bleiben», doch da hatte sich Miss Bruss schon erregt einem unsichtbaren Gesprächspartner zugewandt: «Aber Mr Rigley, Sie müssen Mr Manford unbedingt begreiflich machen, dass Mrs Manford heute Abend zum Dinner mit ihm rechnet… Es handelt sich um die Abendgesellschaft mit Tanz für die Marchesa…»

Die Heirat ihres Halbbruders hatte Nona Manford ihren ersten echten Kummer bereitet. Nicht dass sie seine Wahl missbilligt hätte. Wie hätte jemand diese spaßige, verantwortungslose kleine Lita Cliffe ernst genug nehmen können, um sie zu missbilligen? Die Schwägerinnen waren bald die besten Freundinnen. Wenn Nona etwas an Lita auszusetzen hatte, so dies, dass sie den unvergleichlichen Jim nicht ebenso blindgläubig anbetete wie seine Schwester. Aber schließlich war Lita nicht dazu geschaffen, andere anzubeten, sondern dazu, selbst angebetet zu werden; das offenbarte der gleichmütige, reglose Blick aus ihren langgezogenen, schmalen, haselnussbraunen Augen, das hieratisch starre, liebliche Lächeln, ja schon die Form ihrer Hände, so schlank und dennoch mit Grübchen, Hände, die niemals erwachsen geworden waren, die schlaff an den Handgelenken hingen, als warteten sie teilnahmslos darauf, geküsst zu werden, oder wie seltene Muscheln oder sich rundende Magnolienblütenblätter auf den Kissen ruhten, die verschwenderisch Litas trägen Leib umgaben.

Jim und Lita Wyant waren nun seit fast zwei Jahren verheiratet, das Baby war sechs Monate alt. Die beiden zählten in ihrem Freundeskreis allmählich zu den «gesetzten Paaren», waren ein stabiler Orientierungspunkt im Heiratstreibsand von New York. Nonas Liebe zu ihrem Bruder war zu uneigennützig, als dass sie sich darüber nicht gefreut hätte; sie wünschte sich vor allem, dass ihr alter Jim glücklich war, und glücklich war er bestimmt – oder war es bis vor Kurzem gewesen. Schon Mrs Manfords eisernem Regiment entkommen zu sein bedeutete für ihn eine größere Erleichterung, als er selbst wahrhaben mochte. Und dann war er noch immer Litas glühendster Verehrer; noch immer bezauberten ihn ihre kindischen Launen, die Unpünktlichkeit und Verantwortungslosigkeit, die das Leben mit ihr nach der überpünktlichen Routine im perfekten Haushalt seiner Mutter so aufregend ungewiss machten.

Über all das freute sich Nona; nur manchmal spürte sie schmerzlich die Einsamkeit in diesem perfekten Haushalt, jetzt, wo Jim, das einzige widerständige Element, fort war. Bestimmt ahnte Jim, dass sie einsam war: Er förderte die wachsende Vertrautheit zwischen seiner Frau und seiner Halbschwester und versuchte Letzterer das Gefühl zu geben, dass seine Wohnung ein zweites Zuhause für sie war.

Lita war Nona immer freundlich gesinnt gewesen.