Sie hatte Manford müde und leicht gereizt angetroffen; bevor er noch Zeit gefunden hatte, ihr von dem Besuch ihrer Mutter zu erzählen, stieg Nona schon die Duftwolke von Paulines kühlem, hygienisch frischem Parfüm in die Nase, und sie fragte sich nervös, was geschehen sein mochte, dass Mrs Manford ihre dicht gedrängten Termine sausen ließ und in die Kanzlei ihres Mannes eilte. Den armen Punkt A hatte sie natürlich auch diesem Notfall geopfert – ohne zu ahnen, wie erleichtert er über diese Verschiebung war. Aber was konnte sie veranlasst haben, Manford so plötzlich aufzusuchen, wo sie sich doch heute Abend beim Dinner sahen?
Das Mädchen hatte keine Fragen gestellt, sie wusste, dass Manford, wie in seinem Beruf üblich, lieber selbst der Fragesteller war. Vor allem suchte sie natürlich seine Hilfe Arthur Wyant betreffend. Sie merkte, dass dies seine Gereiztheit zunächst noch verstärkte. Ob er der Hüter von Wyant sei, wollte er wissen. Aber schon die nächste Frage verkniff er sich: «Warum zum Teufel kann sich nicht sein Sohn um ihn kümmern?» Sie hatte die Frage förmlich auf seinen Lippen gelesen, aber sie schlossen sich darüber, und er erhob sich mit einem Achselzucken aus seinem Sessel. «Armer Teufel. Meinst du, ich kann da irgendwie behilflich sein? Also gut, ich schaue morgen bei ihm vorbei.» Seit der Scheidung hatten er und Wyant sich immer dann getroffen, wenn es um Jims Zukunft ging; Wyant empfand eine Art demütigen Dank für Manfords Großzügigkeit gegenüber seinem Sohn. «Nicht das Geld, Nona – was schert mich Geld! Aber dass er so viel Anteil an ihm nimmt; dass er ihm hilft, sich selbst zu finden, ihn schätzt, zum Henker! Er versteht Jim hundertmal besser, als deine Mutter ihn je verstanden hat…» Auf dieser Grundlage trafen sich die beiden Männer ab und zu in einer Atmosphäre der Toleranz und des Verständnisses…
Nona erinnerte sich an das Gesicht ihres Vaters, als sie ihn verließ: besorgt und abgespannt, doch in den Augen jenen schelmischen Ausdruck, den er immer hatte, wenn er sie ansah. Jetzt, frisch rasiert, lächelnd, leicht übersättigt, wirkte sein Gesicht, als wäre es aus Stein. «Wie seine eigene Totenmaske», dachte das Mädchen, «als hätte er endgültig mit allem abgeschlossen. Und wie ihn diese zwei Frauen langweilen! Mummy hat Gladys Toy neben ihn gesetzt, als Belohnung – wofür?» Sie lächelte über die Einfalt ihrer Mutter, die sich einbildete, dass er mit Mrs Herman Toy das hatte, was Pauline einen «harmlosen Flirt» nannte. Die offensichtlichen Reize dieser Dame bedeuteten ihm nicht mehr als die der blühenden Bathseba27 auf dem Gobelin hinter seinem Stuhl, vermutete Nona. Aber Pauline hatte – über ihre gewohnte, sich über alle ergießende Liebenswürdigkeit hinaus – offenbar ihre Gründe, warum sie Manford bei Laune halten wollte. «Wahrscheinlich der Mahatma.» Nona wusste, wie sehr ihre Mutter Scherereien hasste, wie ordinär und unchristlich sie dergleichen fand. Für den März, wenn Manford zum Tarpunfischen28 fuhr, hatte sie eine Ruhekur geplant, und die würde sie bestimmt nur ungern aufgeben.
In den Gesprächspausen schweifte Nonas Blick durch den Raum, blieb an Jims gutmütigem, versonnenem Gesicht hängen – Jim blickte immer versonnen bei den Banketts seiner Mutter – und huschte weiter zu Aggie Heustons kleiner, präzise gezeichneter Maske, an der alles schmal und senkrecht war, wie beim Gesicht einer Heiligen, die man in einer Kathedrale in eine Nische gequetscht hat. Aber die Augen des Mädchens ruhten nur kurz auf Aggie, denn als sie sie ansah, fing sie plötzlich deren starren Blick auf. Aggie hatte sie heimlich gemustert, und das jagte Nona einen leichten Schrecken ein. Einen Augenblick später wandte sich Mrs Heuston an Parker Greg, den interessanten jungen Sozialreformer, den Pauline in der optimistischen Annahme, alle Weltverbesserer empfänden Sympathie füreinander, neben sie gesetzt hatte. Nona, die Parker Gregs Ansichten kannte, musste auch darüber lächeln. Aggie fühlte sich mit ihrem anderen Tischnachbarn, Mr Herman Toy, bestimmt viel wohler. Dieser dachte über alles genauso wie alle anderen Kapitalisten.
Nona fing Stan Heustons Lächeln auf und wusste, er hatte erraten, was in ihr vorging; aber auch von ihm wandte sie sich ab. Das war das Letzte, was sie wollte: dass er ahnte, was sie wirklich über seine Frau dachte. Tief drinnen in Nona gab es etwas, was sie immer wenn es ernst wurde, den schwierigeren Weg wählen ließ.
Manford hörte geistesabwesend erst der einen, dann der anderen Tischdame zu. Mit ihrer klanglosen, unrhythmischen Stimme, die sich anhörte wie lauwarmes Wasser, das in eine Badewanne läuft, sagte Mrs Toy: «Ich begreife nicht, wie jemand in einem Haus ohne Lift leben kann! Aber vielleicht kommt das daher, weil ich es nie musste. Vaters Haus hatte den ersten elektrischen Lift in Climax. In England haben wir einmal den Herzog von Humber auf Humber Castle besucht – es war einer dieser Riesenempfänge mit königlichen Hoheiten und so weiter, Golf und Polo den ganzen Tag und jeden Abend ein Ball, und ob Sie’s glauben oder nicht, wir mussten alle Treppen zu Fuß gehen! Ich weiß nicht, aus welchem Holz diese Engländer geschnitzt sind. Die kennen das gar nicht, was wir Komfort nennen. Am zweiten Tag sagte ich zu Herman, ich halte das nicht mehr aus, diese schrecklichen glatten Treppen nach zwei Runden Golf und dem Tanzen bis vier Uhr früh.
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