Das ruiniert mein Herz – der Arzt hat mich mehrmals warnend darauf hingewiesen! Ich wollte sofort abreisen, aber Herman meinte, das würde den Herzog kränken. Ein sehr netter alter Herr, der Herzog. Trotzdem habe ich erst eingewilligt zu bleiben, als Herman mir eine mit Saphiren und Smaragden besetzte Agraffe29 von Cartier versprochen hat.»
Das kleine Frettchengesicht der Marchesa mit den wachsamen, flammenden Augen schnellte klatschsüchtig nach vorn. «Der Herzog von Humber? Den kenne ich gut. So ein lieber alter Herr! Ach, Sie waren also auch auf Humber? Er lädt mich so oft ein. Wir sind verwandt… ja, durch seine erste Frau, deren Mutter eine Venturini aus der kalabrischen Linie war, Donna Ottaviana. Ja. Eine andere Schwester, Donna Rosmunda, die Zierde der Familie, heiratete den Herzog von Lepanto, einen mediatisierten30 Fürsten.»
Sie hielt inne, und Manford las in ihren Augen die hektische stumme Frage: «Ob sie diesen Ausdruck wohl seltsam finden? Ich weiß ja selbst nicht genau, was ‹mediatisiert› bedeutet. Und diese Amerikaner! Sie haben keinerlei Skrupel und sind doch ständig empört.» Laut fuhr sie fort: «Ein mediatisierter Fürst, aber ein Mann von allergrößter Charakterstärke.»
«Oh», murmelte Mrs Toy verwirrt, wenn auch sichtlich erleichtert.
Manfords an ihren Vertäuungen zerrende Aufmerksamkeit hatte sich wieder losgerissen und war auf und davon gesegelt. Das wievielte Dinner war das in diesem Winter? Und kein Ende in Sicht! Wie hielt Pauline das aus? Warum wollte sie es überhaupt aushalten? All diese Ruhekuren, Massagen und rhythmischen Übungen, ersonnen, um Menschen zu kurieren, die kerngesund wären, wenn sie nur ein normales Leben führen würden! Wie diese Närrin neben ihm, die vergeblich ihren blonden Charme versprühte und keine Treppe steigen konnte, weil sie die ganze Nacht getanzt hatte! Pauline war genauso: Nie ging sie eine Treppe zu Fuß, und dann brauchte sie Gymnastik und Osteopathie und weise Hindus, damit ihre Muskeln nicht verkümmerten… Er sah seine Mutter vor sich, draußen auf der Farm in Minnesota, bevor sie nach Delos gezogen waren – sah sie säen, Kartoffeln ausbuddeln, Hühner füttern; sah sie kneten, backen, kochen, waschen, flicken und den noch nicht fertig zugerittenen Junghengst einfangen und anschirren, um zwölf Meilen durch den Schnee zum Arzt zu fahren, als eines Tages die Männer unterwegs waren und seine kleine Schwester sich so schrecklich verbrühte… Und nun saß die alte Dame noch immer in ihrem hübschen kleinen Backsteinhaus in Delos, gesund und munter trotz ihres Alters, und würde sie alle überleben. War nicht vielleicht das die Art von Leben, für die auch Manford geschaffen war? Landwirtschaft im großen Stil betreiben, mit den modernen Maschinen, die seine Vorfahren noch nicht besessen hatten, alle anderen im Bezirk überflügeln, die Waren in großen Handelszentren verkaufen und eine Rolle in der Staatspolitik spielen wie sein älterer Bruder? Hirn und Muskeln benutzen, den ganzen Körper und die ganze Seele, wirkliche Dinge tun, wirkliche Erfolge in der Öffentlichkeit erringen statt sich diesen künstlichen Aktivitäten hinzugeben, diesem immer schnelleren Kreiseln im leeren Raum, diesem ewigen Ausruhen und Zum-Arzt-Gehen, um Anstrengungen zu kompensieren, die zu nichts führten, zu nichts, nichts, nichts…
«Natürlich wissen wir, dass Sie uns etwas verraten könnten, wenn Sie denn wollten. Jedermann weiß, dass die Lindons Sie um Rat ersucht haben.» Aus Mrs Toys großen, seichten Augen schwamm die Frage auf einer meeresblauen Woge aus Neugier zu ihm herüber. «Kein wahres Wort? Oh, natürlich, was sollen Sie auch sonst sagen! Aber jeder rechnet damit, dass es bald Ärger gibt.»
Und ein Flüstern vonseiten der Marchesa: «Belästigt sie Sie etwa wegen dieses mysteriösen Mahatma? Diese Närrin! Solange die liebe Pauline an ihn glaubt, bin ich beruhigt. Wie ich schon vor dem Essen zu Pauline gesagt habe: ‹Was Sie und Dexter gutheißen, heiße ich ebenfalls gut.› Deshalb möchte ich auch unbedingt meinen armen Jungen nach New York kommen lassen, meinen Michelangelo! Wenn Sie ihn nur sehen könnten – Sie würden ihn bestimmt genauso ins Herz schließen wie unseren lieben Jim, würden ihn vielleicht sogar in Ihre Kanzlei aufnehmen… Ach, lieber Dexter, das war immer mein Traum!»
Was für ein Leben, wenn nicht dieses? Denn natürlich war der Traum von einer Farm im Westen Blödsinn. Was er sich wirklich wünschte, war ein Leben, in dem sich ein so einflussreicher und fesselnder Beruf wie der seine irgendwie in Einklang bringen ließ mit langen Perioden ländlicher Ruhe, mit Büchern, Pferden und Kindern – ach, Kinder! Eigene Söhne, die er mit dem Leben auf dem Land vertraut machte, die er auf lange Wanderungen mitnahm, denen er Wissenswertes über Bäume, Pflanzen und Vögel beibrachte, mit denen er Eichhörnchen beobachtete und im Winter Rotkehlchen und Drosseln fütterte. Im Dunkeln käme er dann heim ans Kaminfeuer, zu Lampenlicht und einem Teetisch, der sich unter Köstlichkeiten bog und um den sich hungrig und aufgedreht von dem langen Ausflug seine Mädchen und Jungen scharten (auch Mädchen, noch mehr kleine Nonas) – und zu einer Frau, die ruhig von ihrem Buch aufblickte, einer Frau, die viel zu jung aussah, um die Mutter dieser Kinder zu sein, viel zu jung…
«Sie schauen zu Jims Frau hinüber?», unterbrach ihn die Marchesa. «Kein Wunder! Très en beauté,31 unsere Lita! Dieses Kleid, genau derselbe Farbton wie das Haar, und diese indischen Smaragde… wie raffiniert! Aber eine etwas schwierige Gesprächspartnerin, nicht wahr? Ein bisschen zu schweigsam? Nein? Nun, bei Ihnen vielleicht nicht, bei ihrem lieben Vater! Schwiegervater, meine ich…»
Schweigsam! Das Wort ließ seine Gedanken wieder abschweifen. Denn in dieser anderen Welt voll lautem Kindergelächter, Kindergezanke und dem gesunden Gepoltere und Gelärme einer großen Familie auf dem Land gab es irgendwo verborgen in der Erde ein riesiges Reservoir der Stille, ein Bassin, in das man immer abtauchen und seine Seele in Frieden baden konnte. Das Traumbild war undeutlich und widersprüchlich, doch alles schien in den Augen dieser Frau aufzugehen und zu verschmelzen…
Pauline gab ihm von ihrem Tischende ein Zeichen. Er stand auf und bot der Marchesa den Arm.
Draußen in der Halle hörte man schon die Klänge des berühmten Somaliland-Orchesters aus dem Ballsaal die Treppe herunterrumpeln und -poltern. Die Damen, angeführt von Mrs Toy, strömten zu dem verspiegelten Lift, den man mit Treibhausflieder und japanischen Kirschblüten den Blicken der Gäste entzogen hatte, nur Amalasuntha an Manfords Arm setzte einen schlichten schwarzen Schuh auf die Marmorstufen. «Ich bin an römische Paläste gewöhnt!»
7
«Wenigstens eine kleine Runde?», fragte Heuston, und Nona gab nach und gesellte sich zu den Tänzern, die mit langsamen Schritten über das glänzende Parkett schwebten.
Tanzen hatte keine besondere Bedeutung, es war wie Atmen, was blieb zu tun, wenn man nicht tanzte? Sie konnte schlecht ablehnen, ohne seltsam zu wirken; es war einfacher, einzuwilligen und sich zwischen den Paaren zu verlieren, die dasselbe komplizierte Ritual befolgten.
Die Tanzfläche war voll, aber nicht überfüllt, dafür hatte Pauline schon gesorgt. Das ließ sich leicht im Voraus berechnen, denn keiner der Geladenen sagte je ab, und wenn sie mit Maisie Bruss die Liste zusammenstellte, maß sie jedem Paar die nötige Fläche zu, so sorgfältig, als kalkulierte sie den Platzbedarf in einem Krankenhaus. Auch die Belüftung war perfekt, weder zog es, noch war es stickig. Man hatte immer das Gefühl, im Freien unter einem lauen südlichen Himmel zu tanzen.
Nona, die wusste, was es gekostet hatte, diese Illusion zu erzeugen, bewunderte ihre unermüdliche Mutter einmal mehr. «Ist sie nicht wunderbar?»
Mrs Manford stand aufrecht an der Tür, ausgeruht, einen matt schimmernden Diamantreif im Haar, den schlanken Fuß in Richtung Tanzfläche vorgestreckt.
«Jeden einzelnen Tag, das ganze Jahr über! Ah, sie tanzt. Mit Cosby.»
«Ja. Mir wäre es lieber, wenn sie es nicht täte.»
«Nicht mit Cosby?»
«Du liebe Zeit, nein. Überhaupt nicht.»
Nona und Heuston hatten sich hingesetzt und schauten aus ihrer Ecke zu, wie die sich drehenden Füße ein trügerisches Muster webten.
«Aha. Du glaubst, sie tanzt in einer bestimmten Absicht?»
Das Mädchen lächelte.
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