In den Regalen standen ein paar Bücher, auch sie schäbig. Einst mochten sie Wyant etwas bedeutet haben, seine Sprache war noch immer durchsetzt mit Spuren früherer Bildung, besonders in Gegenwart von Besuchern wie Nona und Stan Heuston. Aber sein Anspielungsrepertoir legte den Schluss nahe, dass er schon seit Jahren nichts mehr gelesen hatte. Selbst Romane bedeuteten eine zu große Belastung für seine Konzentrationsfähigkeit. Seit Nona denken konnte, beschäftigte er sich nur mit Illustrierten, reich bebilderten Zeitungen und den Lieferungen der allwöchentlichen Skandale. Er interessierte sich außerordentlich für die Privatangelegenheiten der Gesellschaft, die er nicht mehr aufsuchte, machte sich aber in den Gesprächen mit Nona oder Heuston stets über dieses Interesse lustig.

Er saß mit hängenden Schultern, gesenktem Kopf und unbeholfen bandagiertem Fuß in seinem Sessel vergraben, doch auf Nona wirkte er, wie er immer auf sie wirkte: größer, schlanker, stattlicher und kräftiger als alle Männer, die sie kannte. Inzwischen sackte er auch in sich zusammen, wenn er stand, er war vorzeitig gealtert, und vielleicht verband man ihn daher so leicht mit verschwundenen Sitten und Gebräuchen, wie sie allenfalls in seiner frühesten Jugend üblich gewesen sein konnten.

Für Nona würde er jedenfalls immer der Arthur Wyant von der vergilbten Rennplatz-Fotografie auf dem Kaminsims bleiben. Im grauen Gehrock und Zylinder der frühen Achtzigerjahre stand er als größter in einer Reihe anderer großer, ähnlich gekleideter Männer hinter Damen mit Puffärmeln und kleinen Hüten, die schräg auf dem kunstvoll frisierten Haar saßen. Wie friedlich, heiter und gemütlich sie alle wirkten! Nie konnte Nona sie betrachten ohne ein schmerzhaftes Bedauern, dass sie nicht in jenen luxuriösen Zeiten der Dogcarts und Victorias16, des gemächlichen Tennisspiels und der Nachmittagsbesuche geboren war.

Noch mehr als seine Gestalt verband sein Gesicht Wyant mit dieser Vergangenheit: der kleine, wohlgeformte Kopf, das krause Haar, das sich über einer schmalen, leicht fliehenden Stirn schon lichtete, die Augen, in denen sich noch ein Zwinkern hielt – Augen, die wahrscheinlich einst, als das Haar noch braun war, blau gewesen und jetzt wie alles andere ausgebleicht waren –, und der dünne, hübsche Schnurrbart über einem zweifelnden, ironisch verzogenen Mund.

Eine romantische Gestalt – oder vielmehr deren verblasste Fotografie. Ja, vielleicht war Arthur Wyant schon immer verblasst gewesen, wie ein reizvolles Spiegelbild in einem blinden Spiegel. Und die langen Gliedmaßen und die gute Haltung waren für einen anderen Mann gedacht, einen Mann, dem wirklich widerfuhr, wovon Wyant nur träumte.

Bei seinem Besucher, wiewohl aus derselben Familie, wäre niemand auf solche Gedanken gekommen. Stanley Heuston war viel jünger, Mitte dreißig, und fast alles an ihm war irgendwie durchschnittlich: seine Größe, seine Hautfarbe, seine Gesichtszüge. Aber er hatte eine markante Stirn, einen energischen, spöttischen Zug um den Mund, und nur die kleinen, flinken Augen verrieten etwas von der Unsicherheit und Unentschiedenheit, die er von seiner Wyant-Mutter geerbt hatte.

Als Nona näher trat, streckte Wyant ihr eine dürre, fieberheiße Hand entgegen. «Na, das nenne ich Glück! Stan hat sich gerade fertig gemacht, um beim Nahen deiner Mutter zu fliehen, und stattdessen tauchst du auf!»

Heuston erhob sich und begrüßte Nona mit einer gewissen Förmlichkeit. «Vielleicht sollte ich trotzdem fliehen», sagte er mit einer auffallend angenehmen Stimme. Eindringlich blickte er das Mädchen an.

Sie hob leicht die Hand, weniger um ihn zurückzuhalten oder zu verabschieden, als vielmehr um ihre vollkommene Gleichgültigkeit zu demonstrieren. «Kommt Mutter denn nicht auch gleich?», fragte sie, an Wyant gewandt.

«Nein; ich bin auf morgen verschoben worden. Es muss einen riesigen Erdrutsch gegeben haben, da sie ihre Pläne in letzter Minute geändert hat. Setz dich und erzähl uns alles.»

«Ich weiß von keinem Erdrutsch. Nur dass heute die Abendgesellschaft mit Tanz für Amalasuntha ist.»

«Aha, aber so etwas schafft deine Mutter doch spielend. Du unterschätzt ihre Fähigkeiten. Stan hat gerade Andeutungen von etwas weit Explosiverem gemacht.»

Nona verspürte ein inneres Zittern; würde jetzt Litas Name fallen? Sie warf Heuston einen fast feindseligen Blick zu.

«Oh, Stans Andeutungen…»

«Da siehst du, was Nona von meinen Äußerungen über Städte und Menschen hält.» Heuston zuckte die Achseln. Er war stehen geblieben, als wollte er sich gleich verabschieden, doch wieder fühlte das Mädchen seinen gespannten Blick flehentlich auf sich gerichtet.

«Wartest du, um mich nach Hause zu begleiten? Das brauchst du nicht. Ich habe vor, noch lange zu bleiben», sagte sie und lächelte über ihn hinweg Wyant an, während sie sich auf einem der chintzbezogenen Sessel niederließ.

«Bist du nicht ein bisschen streng mit ihm?», meinte Wyant, nachdem sich die Tür hinter dem Besucher geschlossen hatte. «Es ist doch kein Verbrechen, dich nach Hause begleiten zu wollen.»

Nona machte eine ungeduldige Handbewegung. «Stan langweilt mich.»

«Na ja, er hat nicht gerade den Reiz des Neuen. Oder ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit, deiner Zeit. Mir kommen seine Gedanken manchmal ziemlich umstürzlerisch vor, aber in deinen und Litas Kreisen gilt ein junger Mann, der nicht den ganzen Tag tanzt und die ganze Nacht trinkt – oder umgekehrt – vermutlich als unmodern.»

Das Mädchen ging nicht darauf ein, und nach einer kurzen Pause fuhr Wyant in seinem halb spöttischen, halb nörgelnden Ton fort: «Oder ist er vielleicht nicht ausreichend ‹übersinnlich begabt›? Das ist doch das Neueste, nicht wahr? Wenn ihr nicht die Beine hochschmeißt, hegt ihr hochfliegende Gedanken. Das erinnert mich wieder an Stans Neuigkeiten…»

«Ja?», brachte Nona zwischen ausgedörrten Lippen hervor. Ihr Blick wanderte von Wyant zu den glühenden Kohlen im Kamin.