Dort klirrte er ein Paar Secunden lang mit seinen Instrumenten, goß dann eine helle Flüssigkeit auf einen Schwamm, und kam auf sie zu.
»Es ist ja nur ein Augenblick, mein liebes, süßes Kind,« bat die Mutter; »halte Dich nur wenige Secunden still, und Alles ist vorüber und überstanden. – Wenn nur der Vater zu Hause geblieben wäre!«
Der bleiche Zahnarzt lächelte, sagte jedoch kein Wort, und Marie schaute fest und entschlossen zu ihm auf. Aber – die rechte Hand hielt er etwas zurück; schon hob er den linken Arm mit dem Schwamm, da fiel ihr Blick auf das blitzende Instrument, das er, halb versteckt, in der zurückgebogenen Rechten zu verdecken suchte. In dem einen Moment kehrte bei ihr die alte Furcht und Angst zurück, und mit einem gellenden Schrei, ehe selbst die Mutter sie daran verhindern konnte, sprang sie wieder vom Stuhle auf und der Thür zu.
»Marie!« rief die Mutter erschreckt und bittend, »Marie, wo um Gottes willen läufst du hin?«
Aber Marie ließ sich durch den Ruf nicht halten, denn zu gleicher Zeit hörte sie auch, wie der entsetzliche Doctor hinter ihr drein sprang, sie einzuholen. In der jetzt nur noch vermehrten Angst, von dem fürchterlichen Manne mit den blitzenden Instrumenten gar mit Gewalt gefaßt und gezwungen zu werden, floh sie die Treppe nieder, Schutz drüben bei der Tante zu suchen, die so gut und freundlich mit ihr war.
Aber die Verfolger waren dicht hinter ihr. Schon konnte sie die Schritte fast neben sich hören, und die weiße Hand des Arztes, an der die funkelnden Ringe staken, streckte sich nach ihr aus, sie zu erfassen. Mit einem wahren Angstschrei floh sie den ersten Treppenabsatz nieder, als sie unten an den Stufen zu ihrem Entsetzen eine eben solche Gestalt, mit eben solchem Kästchen unter dem Arm, wie der Doctor oben, zu erblicken glaubte.
In Todesangst auf der nur von einem sehr kleinen Fenster erhellten und schon fast dunklen Treppe nach Hülfe umherschauend, fiel in diesem entsetzlichen Moment ihr Blick auf die bemalte, geheimnißvolle Thür des alten Hauses, neben der sie sich befand und die – ein eisiger Schauer zog ihr durch Mark und Bein – halb geöffnet stand.
»Pst – pst!« rief dabei eine leise Stimme, und ein bleicher, schlanker Knabe, von zwölf oder dreizehn Jahren vielleicht, stand auf der Schwelle und winkte ihr rasch und ängstlich, zu ihm herein zu flüchten. »Um Gottes Willen,« stammelte Marie – aber hinter ihr sprang Jemand die Stufen herunter, und als sie den Kopf scheu dorthin wandte, sah sie die gierig nach ihr ausgestreckte Hand des Arztes.
»Marie,« flüsterte dabei das liebe fremde Kind dicht neben ihr, und selber kaum wissend, was sie that, halb besinnungslos in Angst und Aufregung, schlüpfte sie durch die eben weit genug geöffnete Thür, die sich augenblicklich wieder hinter ihr schloß. Noch immer aber sich nicht sicher glaubend, wollte sie weiter den Gang hinunter fliehen, um fort, nur aus der Nähe des mehr als alles Andere gefürchteten Arztes zu kommen, als der Knabe sie am Arm festhielt und lächelnd flüsterte:
»Bleib ruhig stehen, Marie; hier können sie nicht her, wenn wir sie nicht hereinlassen wollen. Horch, wie sie hin- und herlaufen und sich den Kopf zerbrechen, wo Du auf einmal hingekommen bist. Hahahaha – ich kenne sie und habe sie oft und oft behorcht, wenn sie auf der alten, hohlklingenden Treppe auf und nieder liefen. Aber Du hast Schmerzen, armes Kind – warte, davon helf ich Dir gleich.«
Dabei strich er ihr nur ein einziges Mal mit der Hand über das fieberglühende Antlitz, und Marien war es, als ob er mit dem einen eiskalten Finger den Zahn berühre. Im Nu verschwand da der Schmerz, und sie fühlte sich leicht und wohl.
»So, Marie!« sagte da der fremde Knabe freundlich, »jetzt komm mit mir, denn da Du doch nun einmal bei mir bist, so zeige ich Dir auch jetzt die eigene Heimath. Wie lange habe ich mich darauf gefreut!«
»Marie, meine Marie!« rief in diesem Augenblicke der Mutter Stimme in Todesangst draußen auf der Treppe, und Marie zögerte ängstlich. Der Laut klang gar so wehmüthig zu ihr herein.
»Wir bleiben nicht lange,« flüsterte ihr aber der Knabe zu, »nur bis der Doctor fort ist.«
»Der Doctor!« schauderte Marie, und draußen hörten sie sein feines höfliches Lachen, und es kam ihr fast vor, als ob sie das Klirren der Instrumente, wie der Stahl klingend zusammenstieß, unterscheiden konnte.
»Fort, fort!« stöhnte sie und floh so rasch den dunklen, schmalen Gang entlang, daß ihr der fremde Knabe kaum zu folgen vermochte, bis sie eine verschlossene Thür erreichte und dort stehen bleiben mußte.
»Siehst Du,« lachte der Knabe hinter ihr drein, »so ist's, wenn man hinter verschlossenen Thüren sitzen und warten muß und nicht hindurch kann. Aber nur vorsichtig, Marie! hier sind Stufen – tritt leise auf,« setzte er mit unterdrückter Stimme hinzu, »und sprich kein Wort, bis ich selber es Dir sage. Wir dürfen den alten Mann nicht böse machen.«
»Welchen alten Mann?« flüsterte Marie mit kaum hörbarer Stimme furchtsam zurück.
»Nun, den Herrn Quetzlinberger, wen denn sonst? Dem gehört ja das Haus.«
»Ja, dem Herrn Quetzlinberger,« hauchte Marie mehr, als sie sprach. Der Knabe drückte ihr aber wieder leise den Finger auf die Lippen und öffnete auch in demselben Augenblicke eine hohe und, wie sie beim Oeffnen sah, wunderlich geschnitzte Thür. Dann aber wollte ihr das Blut fast in den Adern stocken, denn vor ihr lag – sie deckte die Augen einen Moment mit der Hand, das konnte und mußte ja doch nur ein Traum sein – nein, vor ihr lag in voller unverkennbarer Wirklichkeit das Hauptzimmer des alten Hauses mit seinen gelbseidenen, niedergelassenen Gardinen, mit dem schweren Teppich, den alten, aus dunklem Eichenholze gar sonderbar geschnitzten und vergoldeten, aber auch weich gepolsterten Möbeln, und den polirten und ebenfalls zierlich geschnittenen Nußbaum-Wänden, an denen alte, kaum noch erkennbare, mächtige Bilder hingen.
Eines von diesen fesselte ihre Aufmerksamkeit vor allen anderen. Es stellte einen jungen Mann in Lebensgröße dar, mit hochgepudertem Haar und reich brodirtem, hellgelbem Seidenrocke; das Gesicht sehr roth und weiß, und die ganze helle Figur aus dem fast schwarz gedunkelten Hintergrunde des Zimmers herausspringend.
»Herr Quetzlinberger,« flüsterte da der Knabe leise, der dem auf das Bild gehefteten Blicke seines jungen Gastes mit den Augen gefolgt war. Er deutete dabei vorsichtig mit der Hand nach dem schon fast düsteren Erker hinüber, wo Marie jetzt zu ihrem Entsetzen die Gestalt des kleinen Mannes erkannte, gerade wie ihn die Großmama in dem gelbseidenen Schlafrocke mit den grellrothen Aufschlägen beschrieben haben sollte, und der jetzt zwischen den fest zusammengezogenen Gardinen vorsichtig nach der Straße hinunter blinzelte.
Wie das aber so eigenthümlich ist, daß wir den eigenen Namen, der in unserem Umkreise, oft selbst außer Gehörweite ausgesprochen wird, fast mehr fühlen als verstehen und uns unwillkürlich, manchmal sogar unbewußt, danach umdrehen, so wandte auch die Gestalt im Erker, die den leisen Ton unmöglich gehört haben konnte, den Kopf halb zur Seite, und ihr Blick fiel in diesem Moment auf das kleine Mädchen, das zitternd in der Mitte der Stube stand.
Herr Quetzlinberger sah sie ein Paar Secunden still und forschend an, hob dann langsam die Hand auf und drohte ein klein wenig mit dem Finger. Aber er sah nicht böse dabei aus, und es war mehr, als ob er Ruhe gebieten wolle.
»Er kommt heute wieder nicht,« sprach er dabei leise vor sich hin und schüttelte traurig mit dem Kopfe; »es ist schon fast dunkel und er läßt sich noch nicht sehen.«
Marie sah fragend zu ihrem Führer auf, der aber legte warnend den Finger auf seine Lippen und zog Marien mit sich auf die gegenüberliegende Seite der Stube, wo, gerade unter dem großen Bilde, ein breitmächtiges, weich gepolstertes und mit schwerem Seidenzeuge überzogenes Canapee stand. In dessen eine Ecke drückte er sich hinein und winkte dem Mädchen, neben ihm Platz zu nehmen.
In dem großen Zimmer war es indessen ganz dunkel geworden – dunkel und still. Von gegenüber aber, und wie es Marien so vorkam, von einer breiten, hochbeinigen Commode nieder, schaute ein anderes, fast weißleuchtendes Gesicht aus dem vollkommen unerkennbaren Hintergrunde heraus. Es war dies das Gesicht eines jungen, bildschönen Mannes, auch natürlich in der Tracht damaliger Zeit, doch mit edlen, offenen Zügen, aus denen nur ein trüber, gar so schwermüthiger Ernst sprach. Marien kam es aber fast vor, als ob das gar kein Bild sein könne und die Gestalt mit den lebhaft klugen Augen und den halbgeöffneten, wie sprechenden Lippen dort oben in Wirklichkeit stehen müsse und jeden Augenblick herunter springen könne.
Links von dem Erker, wo an der schmalen Wand eines starken Vorbaues ein schmaler, hoher Spiegel in goldgeschnitztem Rahmen angebracht war, stand unter diesem ein kleiner Pfeilertisch mit Marmorplatte und eingebogenen vergoldeten Beinen. Auf diesem lag ein großes, aufgeschlagenes Buch voll schwarzer und rother Buchstaben mit großen, gelben Beschlägen, wie es die Großmutter beschrieben. Die Brille zwischen den Blättern verrieth auch, daß der alte Herr erst ganz kürzlich darin gelesen und den Band vielleicht erst weggelegt hatte, als es anfing dunkel zu werden.
Auf der Commode stand eine Uhr, wie ihr Vater eine ganz ähnliche, ein Erbstück aus alter Zeit, in seinem Studirzimmer hatte. Der Perpendikel ging auch in regelmäßigen Schwingungen herüber und hinüber – aber vollkommen geräuschlos. Nicht das geringste Schnarren oder Klappern konnte sie hören.
1 comment