Dann erkläre ich ihm gerade heraus, daß diese unversiegelte eiserne Thür nun einmal keine Wand ist, sie mögen's drehen, wie sie wollen, und daß ich mich nicht länger dem Gerüchte aussetzen mag, von meinem Hause aus einen möglichen Eingang in das versiegelte Nachbargebäude zu haben. Ich bin mir das auch selber schuldig,« setzte er, sich mehr und mehr in den Gedanken hineinarbeitend, hinzu; »denn wenn nachher da drüben vielleicht gar das Inventarium nicht richtig befunden würde, käme natürlich auf mein Haus der Verdacht eines Mißbrauchs zuerst. Die Leute glauben von ihren Nebenmenschen ja doch immer am liebsten das Schlechteste. Der Rath mag mir einen Rathsdiener mit herschicken, oder selber eine Deputation wählen, und in deren Beisein soll der Eingang unter jeder Bedingung vermauert werden. Ich habe das Gerede satt, und endlich muß einmal mit dem Treppen-Scandal Ruhe werden.«

Er verließ rasch das Zimmer, und Marie lehnte sich auf ihr Kissen zurück und schloß die Augen, um das Gehörte ungestört von äußeren Eindrücken überdenken zu können.

Die Mutter blieb noch eine lange Zeit schweigend und ihren Gedanken nachhängend bei ihrer Arbeit sitzen, endlich sah sie nach dem auf dem Sopha lehnenden Kinde hinüber und sagte leise:

»Schläft Du, Marie?«

»Nein, Mama – ich dachte an das alte Haus« sagte Marie fast unwillkürlich, und erschrak ordentlich, als sie das Wort gesprochen.

Die Mutter schüttelte mit dem Kopfe und sagte halb lachend, halb verdrießlich:

»Was hast du mit dem alten Hause zu thun? Du fürchtest Dich doch nicht etwa auch davor?«

»Nein, Mama.«

Es entstand eine Pause. Die Mutter nahm ihre Nadel wieder auf und stickte weiter; endlich murmelte sie halblaut vor sich hin, und mehr mit sich selber, als zu der Tochter redend:

»Der alte Herr Quetzlinberger hätte auch etwas Gescheidteres thun können, als ohne ordentliches Testament zu sterben. Zeit hatte er doch wahrhaftig genug gehabt sein Leben lang.«

»Wer ist der Herr Quetzlinberger, Mama?« fragte Marie.

»Der Herr Quetzlinberger? nun, der letzte Besitzer des Hauses, nach dessen Tode es eben verschlossen und versiegelt wurde. Jetzt können sich die Erben noch, wer weiß wie lange! darum streiten, und ihr Geld darauf verprocessiren.« »Hast Du ihn gekannt, Mama?«

»Den Herrn Quetzlinberger? nein, mein Kind,« lachte die Mutter, »der ist gestorben, ehe ich geboren wurde; aber Deine Großmama hat ihn noch gekannt. – Wir wohnten damals gerade gegenüber in dem gelben Hause mit den hohen Fenstern, wo Postrath Meiers jetzt wohnen. Mutter hat uns oft und viel von ihm erzählt.«

»Ich möchte auch so gern etwas von ihm hören, Mama.«

»Lieber Himmel! das ist jetzt so lange her,« sagte die Mutter, »daß ich mich nur noch auf sehr wenig zu erinnern weiß. Nur das schwebt mir noch vor, daß Herr Quetzlinberger ein kleines, wunderliches, vertrocknetes Männchen gewesen sein soll, das ganze Tage lang in einem gelbseidenen Schlafrocke mit grellrothen Ausschlägen in seinem Erker da drüben gesessen und in einem großen Buche mit gelben Beschlägen gelesen habe. Dann und wann, erzählte Mutter, hätte er aber auch aus dem Fenster gesehen und den unten Vorübergehenden zur Kurzweil Gesichter geschnitten.«

»Und hat Herr Quetzlinberger ganz allein in dem alten Hause gewohnt?« fragte Marie leise, »ist Niemand weiter bei ihm gewesen, der ihn pflegte, als er krank wurde, und bei ihm blieb, als er starb?«

»Oh, doch wohl,« sagte die Mutter, – »eine Haushälterin besorgte Alles, was er brauchte, kochte sein Essen und wusch und scheuerte, und soll das alte Haus inwendig sehr blank und reinlich gehalten haben. Wie aber der Besitzer starb, war die alte Frau auch spurlos verschwunden, und obgleich man sie im Verdacht hatte, daß sie mit Geld und Geldeswerth durchgegangen sei, konnte sie doch nirgendsmehr aufgefunden werden.«

»Und war Niemand weiter bei den beiden Leuten?« fragte Marie nach einer längeren Pause, in der sie sich ordentlich Muth sammelte zu der neuen Frage. »Darüber gingen ebenfalls wunderliche Gerüchte,« sagte die Mutter. »Es war ein Knabe in der Wohnung des alten Herrn Quetzlinger gesehen worden, sollte aber einen Tag vor dessen Tode mit der Wirthschafterin davon gefahren sein. Ueberhaupt erzählten damals die Leute wohl eine Menge Geschichten; denn wo sich irgend Jemand von ihnen zurückzieht, und gar etwas geheim hält, sind sie gleich mit eigener Auslegung und Erklärung da. So viel war gewiß, die alte Wirthschafterin blieb verschwunden, und man weiß wohl bis auf den heutigen Tag noch nicht, was aus ihr geworden.«

Marie hatte bei Erwähnung des Knaben leise und langsam mit dem Köpfchen genickt, als ob sie das auch wisse und Alles ganz in der Ordnung sei. Sie erwiderte aber kein Wort und schloß nur, wie vorher, die Augen. Die Mutter arbeitete indessen weiter und glaubte, daß die Tochter eingeschlafen sei. 

   

Kapitel 2

Drei Wochen mochten nach den oben beschriebenen Vorfällen verflossen sein, und der Regierungs-Rath Hechner hatte es indessen wirklich durchgesetzt, daß die in das alte Haus führende eiserne Thür im Beisein von zwei Rathsmitgliedern erbrochen, und der innere Raum – ohne weiter zu untersuchen, wohin der Gang führe – mit einer starken Mauer geschlossen werden solle. Damit war denn jede weitere Verbindung abgebrochen, und der Aberglaube der Dienstleute hatte seinen Halt verloren. Die Veränderung selber sollte in den nächsten Tagen vorgenommen werden.

Marie war in dieser Zeit auch wieder vollkommen wohl und gesund geworden. Aber ein anderer Feind hatte sich bei ihr eingestellt: ein heftiger Zahnschmerz, der, allerdings nur von hohlen Zähnen herrührend, die kaum gesammelten Kräfte doch wieder zu erschöpfen, die Nerven zu überreizen drohte. Alle dagegen angewandten Mittel blieben gänzlich erfolglos, und der Arzt bestand endlich darauf, die beiden schmerzhaften Zähne durch Herausnehmen zu entfernen und dadurch dem Körper die ihm so nöthige Ruhe zurück zu geben.

Marie hatte aber eine unsagbare Angst vor der Operation, und so ungern sich der Arzt dazu verstand, gestattete er doch endlich für das schwächliche Kind den Gebrauch des damals gerade eingeführten Chloroforms, weniger nachtheilige Folgen von der Wirkung des Aethers, als von der übergroßen Angst der armen Kleinen fürchtend.

Selbst hiergegen wollte sich freilich Marie noch sträuben; da aber die Schmerzen immer zunahmen und der herbeigerufene Zahnarzt sogar eine Fistel fürchtete, blieb ihr endlich selber keine Wahl mehr, und sie verstand sich dazu, die Operation am Nachmittage vornehmen zu lassen.

Der Nachmittag kam und der Schmerz war eher heftiger geworden. Der Zahnarzt wurde deßhalb, ohne Marien weiter ein Wort davon zu sagen, mit seinem Apparate herüber bestellt. Als er mit dem Kästchen unter dem Arm in die Thür trat, erschrak das arme Kind wohl und fing an zu zittern, wagte aber doch keine Widerrede mehr. Nur um einen kleinen Aufschub bat sie, sich erst zu sammeln, nur um ein kleines Viertelstündchen, und als das verflossen war, um noch, und um noch eines. Die Mutter, die sich fast eben so vor der doch ganz gefahrlosen Operation fürchtete, war zu schwach, ernsthaft auf rascher Beendigung derselben zu bestehen, so daß sich die Zeit mehr und mehr verzögerte und in der That schon langsam die Dämmerung hereinbrach.

Der Zahnarzt hatte sich indessen mit wirklich grenzenloser Geduld der Angst des Kindes gefügt, erklärte aber doch endlich, daß er entweder jetzt die Operation beenden, oder heute ganz davon abstehen müsse. Die Dunkelheit brach mehr und mehr herein, und er wünschte den Vortheil des Lichtes nicht zu verlieren.

Da bezwang sich die Leidende; sie fing an, sich ihrer Schwäche zu schämen, und suchte in diesem Gefühl die Furcht zu überwinden, die sie vor dem bleichen Manne in dem schwarzen Frack und mit dem entsetzlichen blankpolirten Kästchen unter dem Arm erfaßt hatte. Der Mutter Arm nehmend, die rasch aufsprang, sie zu unterstützen, erhob sie sich vom Sopha und ging selber zu dem schon Stunden lang bereit geschobenen Lehnstuhl, setzte sich hinein und lehnte ihr Köpfchen in die eine Ecke. Beide Händchen preßte sie dabei gegen den, jetzt wieder wie rasend beginnenden Zahn, und sah nun mit klopfendem Herzen, wie der entsetzliche Mann mit der eisernen Ruhe und den weißen ringbedeckten Fingern das Kästchen öffnete.