Wenn Du satt bist, führe ich Dich wieder hinüber auf die Treppe.«
»Und darf ich dort Alles erzählen, was ich hier gesehen?« fragte die Kleine schüchtern.
»Warum nicht, mein Kind?« lachte da der alte Herr, der indessen schon tüchtig zugelangt hatte und mit beiden Backen kaute. »Warum nicht, mein Herzchen? Sie werden Dir's nur nicht glauben.«
»Ich habe noch nie gelogen,« sagte Marie.
Der alte Herr Quetzlinberger lachte, wie er das hörte, dermaßen, daß ihm der Bissen, den er gerade im Munde hielt, vor die Luftröhre kam und er furchtbar an zu husten fing. Nachher fing er noch einmal von Neuem an zu lachen, drehte sich dann nach der hinter ihm stehenden Margareth herum und blinzelte sie mit den kleinen verschmitzten Augen gar so komisch an. Die Margareth aber schüttelte den Kopf, und die Haube darauf wurde immer größer und weißer, und zuckte wie in Strahlen nach der Decke hinauf. Das Flüstern des Knaben an ihrer Seite klang Marien dabei wie das Knistern eines lustigen Feuers im Ofen, und in aller Verlegenheit hob sie den schon eine ganze Weile auf der Gabel gehaltenen Bissen an den Mund. So delicat duftete ihr aber die fremdartige Speise entgegen, daß sie bald alles Andere darüber vergaß.
»O wie herrlich das riecht!« rief sie erstaunt aus, »wie nach Vanille und Zucker und Rosen! So etwas habe ich ja in meinem ganzen Leben noch nicht gekostet!«
»Spucken Sie aus, Mariechen, spucken Sie aus!« rief ihr aber die Frau Bause in dem Augenblick, über den Herrn Quetzlinberger weg, zu, »sonst bleiben Sie hier drüben bei uns und können nie wieder hinüber zu Ihrer Frau Mama.«
Und wie sie das sagte, und Mariechen den Bissen im Munde vor Schrecken festhielt, drehte sich der Herr Quetzlinberger ärgerlich nach der Frau Bause um, legte sein Messer hin und faßte seine große Dose, als ob er ihr die an den Kopf werfen wollte.
»Iß nur, Mariechen, und laß Dir's schmecken,« flüsterte jetzt Gundelrebe an ihrer Seite, »die Frau Bause hat nur Spaß gemacht, und der Onkel wird ihr gleich den Kopf mit der Dose herunterwerfen.«
Aber Marie sah nur die Serviettenzipfel und die große spitze Haube, die in weißen Lichtem nach der Decke hinauf auszuckten und blitzten. Zwischen den funkelnden Strahlen heraus, unbekümmert um diese wie um die nach ihr zielende Tabaksdose, rief dabei die Frau Bause immer noch: »Spucken Sie aus, spucken Sie aus!« und jetzt war es Marien plötzlich, als ob ihr die Stimme so bekannt vorkomme und die Frau Bause das eigentlich gar nicht gerufen hätte. Die Warnung kam ja von Jemandem, der dicht hinter oder neben ihr stand und den sie bis jetzt noch gar nicht gesehen hatte. War das der, für das vierte Couvert erwartete Gast?
Kaum hob sie aber das Köpfchen, so blickte sie in das todtenbleiche lächelnde Gesicht des Zahnarztes, der ihr nachgekommen sein mußte, und wie sich das Zimmer in Schrecken und Entsetzen mit ihr zu drehen anfing, und die regenbogenfarbigen Streifen der Serviettenzipfel und Haubenbänder zu vielfarbigen Kreisen wurden, schloß sie die Augen und lehnte sich in den Stuhl zurück.
»Spucken Sie nur gefälligst aus!« sagte da die Stimme wieder dicht neben ihr, und eine andere rief: »Gott sei tausend Mal gelobt, sie kommt wieder zu sich!«
»Mutter!« rief Marie, halb erschreckt, halb erfreut die Augen zu der geliebten Stimme aufschlagend, »wie bist Du hier hereingekommen?« – Sie fühlte dabei, wie sie in dem Arm der Mutter lag, die sie vornüber gebeugt hielt. Vor ihr aber kniete der entsetzliche Mann mit den Stahl-Instrumenten und hielt ein Waschbecken in der Hand, in dem Blut war. Als sie jedoch davor zurückschrecken wollte, rief die Mutter wieder mit zitternder Stimme:
»Sei ruhig, mein Kind, sei ruhig – es ist ja Alles glücklich vorüber. Ach, ich habe es ja gleich gefürchtet, daß es sie zu sehr angreifen würde.«
»Aber wie bin ich denn wieder hier herübergekommen?« sagte Marie, erstaunt und überrascht dabei um sich herschauend. Sie lag wieder in demselben Lehnstuhl, aus dem sie vor dem schrecklichen Manne geflohen, und weder von Herrn Quetzlinberger, noch Gundelrebe war das Mindeste zu sehen. – »Wo ist denn – wo ist denn die Frau Bause?«
»Die Frau Bause?« sagte die Mutter erschreckt; der Arzt winkte ihr aber heimlich zu, der eben Erwachten nicht gleich zu widersprechen, und sagte leise und beruhigend:
»Sie ist eben fortgegangen, liebes Kind. Sehen Sie, nun haben Sie sich vor dem Schmerz gefürchtet und doch nicht das Mindeste davon gefühlt, nicht wahr? Da, da liegen jetzt die beiden bösen Zähne, die Ihnen so heftiges Weh verursacht haben. Es sind aber auch recht häßliche Knochen, und der eine hat wirklich eine starke, schon fast reife Fistel, die Ihnen noch hätte viel zu schaffen machen können. Es war die höchste Zeit, daß sie herauskamen. Nun ist aber auch Alles überstanden, und Sie werden in ein Paar Tagen wieder so gesund und munter herumspringen wie nur je.«
»Und der Herr Quetzlinberger?« sagte Marie leise.
»Aber, Mariechen!« bat die Mutter, ihre Stirn streichelnd.
»Lassen Sie nur, lassen Sie nur, beste Frau Regierungs-Räthin,« beschwichtigte sie der Arzt. »Das giebt sich Alles von selber wieder.«
»Ich habe ihr neulich von dem alten Mann erzählt,« sagte die Mutter, noch immer mit ängstlicher Besorgniß in den Zügen, »und das hat sich ihr jetzt am Ende in den Kopf gesetzt.«
»Sie hat das geträumt,« lächelte der Arzt, »wir haben davon manchmal die wunderlichsten Beispiele, und bei den gefährlichsten Operationen singen die Kranken nicht selten, oder träumen die schönsten, angenehmsten Sachen. Lassen Sie die Kleine eine Stunde schlafen, dann ist Alles vorüber, und das Ganze wie ein Rausch verflogen, mit dem es auch in seinen Wirkungen eine Aehnlichkeit hat,« Marie blickte in Zweifel und Schwanken zu dem Sprechenden auf, aber der Einfluß des Aethers lag noch zu lähmend auf ihrem Geiste, um sie schon irgend einen Gedanken klar fassen zu lassen.
»Nur ein Traum,« hauchte sie leise, und sank dann, die Augen schließend, in den Stuhl zurück, wo sie bald darauf in einen leisen, wohlthätigen Schlummer fiel.
Der Arzt verließ, von seinem Erfolge vollkommen befriedigt, leise das Zimmer, und die Mutter saß neben dem kranken Kinde und bewachte mit liebender Sorgfalt, aber auch mit schon halb getröstetem Herzen die ruhigen, regelmäßigen Athemzüge der Schlafenden.
Kapitel 3
Marie schlief die ganze Nacht ununterbrochen, aber nicht so sanft und ruhig fort, wie nach der ersten erschlaffenden Wirkung des Aethers. Sie träumte lebhaft, sprach oft einzelne unzusammenhängende Worte, lachte einige Mal und faßte auch wohl krampfhaft und wie ängstlich der Mutter Hand, die nicht von ihrer Seite wich. Nichts desto weniger stand die Sonne schon am Himmel, als sie endlich erwachte, oder vielmehr die Augen öffnete, und halb träumend noch umherschaute.
Kurz vorher hatte der Hausarzt das Zimmer wieder betreten und hielt jetzt ihre linke Hand, den Gang des Pulses zu fühlen, während ihre Rechte in der der Mutter ruhte.
»Mutter,« flüsterte das Kind endlich leise, liebe Mutter!« »Ja, mein Kind, ich bin bei Dir,« sagte diese, sie an sich drückend und küssend. »Ich gehe nicht fort von Dir. Halte Dich nur ruhig, und Du wirst bald wieder vollkommen wohl sein.«
»Und darf ich dann auch wieder einmal zum Herrn Quetzlinberger und zu Gundelrebe hinüber, liebe Mutter?« fragte Marie.
Die arme Frau seufzte recht tief auf, denn was das Kind aus seinem Traume sprach, klang ihr gar zu unheimlich.
Besinne Dich doch nur, Mariechen,« bat sie endlich mit zärtlicher Stimme; »Du hast ja das Alles nur, von dem Aether betäubt, geträumt, und bist ja die ganze Zeit nicht hier aus der Stube, nicht aus dem Lehnstuhl hinaus gekommen.«
»Nicht?« sagte Marie, rasch und erstaunt zu ihr aufschauend, »und ich wäre nicht nebenan in dem alten Hause gewesen?«
»Mit keinem Fuße, Kind.«
»Aber die Thür stand doch offen.«
»Welche Thür?«
»Nun, die an der Treppe, an der Gundelrebe schon so oft geklopft hat, wenn ich oder jemand Anderes vorüber ging.«
»Gundelrebe? wer um Gottes willen ist Gundelrebe? « fragte die Mutter, der die Thränen in die Augen traten.
»Gundelrebe? ei, das ist ja der Neffe des alten Herrn Quetzlinberger, der die feine schmale Narbe über der Stirn hat.«
Der Arzt hatte indessen noch immer ihre Hand gehalten; den Puls aber vollkommen frei von Fieber fühlend, sagte er freundlich:
»Du bist gestern nicht aus der Stube gekommen, liebes Kind, und wie Dir Deine Mutter sagt, ist sie nicht von Deiner Seite gewichen; das darfst Du glauben. Wenn Du also wirklich fortgewesen wärest, müßte sie Dich doch gleich vermißt haben, nicht wahr? Ueberdies möchte es Dir auch schwer geworden sein, in das alte Haus hinein zu kommen.«
»Aber ich bin nun doch einmal drüben gewesen und habe es mit meinen eigenen Augen gesehen,« sagte tief erröthend das Kind. Es fiel ihm jetzt wieder ein, was ihr der alte Herr Quetzlinberger gesagt hatte, daß es ihr Niemand glauben würde, und wie er dann fast erstickt war von heftigem Husten. Sie deckte dabei ihre bleiche Stirn mit beiden, fast durchsichtig dünnen Händchen und hielt eine ganze Zeit lang die Augen geschlossen.
Unten von der Treppe schallte indessen Hämmern und Pochen herauf, und nachdem Marie kurze Zeit dem fremdartigen Geräusch, auf das sie erst nach und nach aufmerksam wurde, gelauscht hatte, fragte sie leise:
»Was ist das, Mama?«
»Das ist die häßliche Thür,« erwiderte die Mutter, indem sie liebkosend das Haar von der Stirn der Kranken strich, »die häßliche Thür, die uns schon so viel Aerger, Noch und Sorge gemacht hat, und die der Rath der Stadt endlich auf Deines Vaters ernste und entschiedene Vorstellungen zumauern läßt.«
»Die Thür ist offen?« rief aber Marie schnell; »siehst Du, Mama, daß ich recht gehabt und nicht gelogen habe?«
»Aber Du hörst ja, daß sie erst heute Morgen geöffnet wurde!« rief die Mutter – »die Leute haben erst vor kaum einer halben Stunde damit begonnen.«
»Und darf ich einmal hineingehen in den Gang?« fragte schüchtern Marie.
»Gott bewahre!« rief da rasch der Arzt, »wir müssen jede solche unnöthige und thörichte Aufregung streng vermeiden, und man soll um Gottes Willen nicht mit solch albernen Geschichten spielen und Mißbrauch treiben. In die alte unnütze Thür kommt jetzt, wie mir die Leute unten sagten, eine vier Fuß dicke Mauer, und das wird dem verrückten Mädchenschnack hier im Hause endlich einmal ein Ziel setzen. Der Herr Regierungs-Rath hätte das schon lange betreiben sollen.«
»Eine vier Fuß dicke Mauer!« seufzte Marie leise vor sich hin, »aber du lieber Gott, da kann ja ...« Sie hielt plötzlich ein und blickte still und erröthend vor sich nieder, als ob sie sich scheue, das auszusprechen, was sie gerade überdacht.
»Was, mein liebes Kind – was kann? – was meinst Du?« fragte sie die Mutter.
Marie barg das Köpfchen an ihrer Brust, schüttelte es aber dabei und sagte leise:
»Nichts, nichts, liebe Mutter – der Traum will mir noch immer nicht aus dem Sinn – er war gar zu lebhaft und ... und das Hämmern und Klopfen da unten thut mir weh.
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