Müssen sie denn solch eine dicke Mauer in die Thür setzen?«
»Gewiß, Marie,« beruhigte sie die Mutter. »Es ist der Leute wegen, damit das tolle Gerede endlich einmal aufhört.«
Ein eigener Gedanke schien aus des Kindes Augen zu blitzen, und zu dem Doctor rasch und mißtrauisch aufschauend, sagte sie: »Aber weßhalb vier Fuß dick, Doctor? Wenn wirklich Niemand dahinter klopft und hindurch will, wäre doch die eiserne Thür allein genug gewesen – und wenn ...« »Und wenn – Marie?« fragte die Mutter, dem Doctor dabei einen ängstlichen Blick zuwerfend.
»Und wenn nun doch Gundelrebe,« fuhr das Mädchen, sich ein Herz fassend, fort, »wenn nun doch Gundelrebe in dem dunklen Gange säße, wäre es da nicht traurig, ihm jede Hoffnung abzuschneiden, je heraus zu kommen, und müßte er dann nicht in Jammer und Einsamkeit da drinnen vergehen?«
»Papperlapapp!« lachte der Doctor, »quäle Dich nur jetzt nicht mit solch albernen Ideen! Die dicke Mauer wird nicht aus Furcht vorgesetzt, daß irgend Jemand von innen heraus brechen könnte, sondern nur um das Gesinde zu beruhigen und die Thür selber zu entfernen. Wenn die erst einmal fort ist und solch ein Haufen Backsteine dasteht, werden auch die Furchtsamsten Muth bekommen und nicht mehr an Geister denken. Säße aber wirklich Dein Gundelrebe dahinter, so könnte er zu irgend einem Fenster oder Kellerloch oder oben zum Dach deßhalb noch immer mit Bequemlichkeit herauskommen. Die Fenster sind ja doch nicht zugemauert, und selbst ein gewöhnlicher Mensch könnte von innen herauskommen, wie viel mehr denn ein Geist! Mach' Dir also darüber ja keine unnützen Sorgen, Marie; schlafe jetzt hübsch und halte Dich ein Paar Tage ruhig, bis sich die Schmerzen im Zahnfleisch und die Folgen des Aethers verloren haben. Sobald Du dann neue Kräfte gesammelt hast, werden Dir auch die traurigen und überspannten Gedanken vergehen, und Du wirst wieder unser munteres braves Mariechen sein, wie in früherer Zeit.«
Marie war seinen Worten mit der gespanntesten Aufmerksamkeit gefolgt, und als er die Fenster und Kellerlöcher erwähnte, nickte sie ihm leise und lächelnd zu. Dann sank sie wieder, die Augen schließend, auf ihr Kissen zurück.
Die Kranke schien übrigens mit diesem Gespräch eine Art von Krisis überstanden zu haben. Sie schlief fast den ganzen Tag vollkommen ruhig, wachte gegen Abend auf und genoß etwas, und verbrachte dann eine eben so ruhige Nacht, ohne ein einziges Mal mehr das alte Haus, den Herrn Quetzlinberger oder Gundelrebe zu erwähnen. Die Mutter kam übrigens in der Zeit gar nicht von ihrem Bette, und schlief selbst die Nacht auf dem Sopha neben ihr.
Die nächsten Tage fühlte sich Marie viel kräftiger und wieder ziemlich wohl, und da sich die Eltern jede Mühe gaben, sie zu zerstreuen und aufzuheitern, so wurden die Bilder jenes Abends, die ihr mit so merkwürdiger Schärfe vor der Seele gestanden, schwächer und schwächer. Ihre Umrisse verloren erst an Klarheit, und mit anderen Träumen, du sie später geträumt, verschwamm das Ganze endlich zu einem wohl immer noch wunderlichen, aber doch wirren Bilde, dessen einzelne Gestalten sie schon nicht mehr so genau abzuscheiden vermochte, und die deßhalb auch bald ihre Macht über sie verloren.
Die Thür war indessen, ohne den Gang weiter zu untersuchen, unter Aufsicht der Behörde fest vermauert worden. Der Regierungs-Rath ließ dann die Stelle mit Kalk bewerfen und die ganze Treppe frisch malen, so daß auch die letzte Spur des hier früher befindlich gewesenen Einganges verschwand. Nach einigen Wochen sprach auch im ganzen Hause kein Mensch mehr davon. Nur Marie ging im Anfang noch mit einiger Angst, mit einem eigenen, schwer zu beschreibenden Gefühle daran vorüber. Aber auch das verlor sich bald, und der Arzt empfahl ihren Eltern jetzt Luftveränderung und Scenenwechsel für die Tochter, um die rasch vorwärts schreitende Genesung zu beschleunigen und zu sichern.
Dem Regierungs-Rathe war das selbst erwünscht, Urlaub zu einer kleinen Reise zu bekommen, und er benutzte den erhaltenen, mit seiner Familie auf kurze Zeit ein Seebad zu besuchen. Auf Norderney, von dem kühlen Salzwasser gekräftigt, gesundete das junge Mädchen auch von Tag zu Tag, und als sie Ende August wieder nach Hellburg zurückkehrten, war die letzte Spur der Krankheit verschwunden. Selbst ein früheres Leiden, oder vielmehr eine Schwäche, die ihren Grund vielleicht ebenfalls mit in der zu großen Reizbarkeit ihrer Nerven fand, hatte sich fast ganz dabei verloren. Ihre Träume hatten nämlich in der letzten Zeit einen so hohen Grad von Lebendigkeit erreicht gehabt, daß sie im Schlafe sogar, ohne es zu wissen, aufstand und in der Stube umherging. Es war, wenn auch keine wirkliche Mondsucht, doch ein geringerer Grad derselben und hatte die Mutter schon mehrmals sehr geängstigt.
Das war durch das stärkende Seebad, die Luftveränderung und überhaupt die durchaus gekräftigte Natur des Kindes jetzt ebenfalls überwunden worden, und die fixen Ideen aus der früheren Zeit, mit dem Einfluß, den der Traum auf sie gehabt, schienen sich ganz verloren zu haben. Wie sie bei der Rückkehr die Treppe im Hause wieder hinaufstieg, blieb sie sogar an der vermauerten Thür lachend stehen, klopfte daran und rief Gundelrebe bei Namen. Die Mutter, die noch immer nicht ohne Unruhe der damals qualvoll durchlebten Stunden gedachte, wollte sie daran hindern und bat sie, die alten Träume nicht muthwillig wieder zu erwecken. Marie schüttelte aber lächelnd den Kopf und meinte, Mütterchen dürfe sich nicht mehr davor fürchten; sie sei jetzt wieder gesund und doch auch verständiger geworden, und habe die alten thörichten Träume lange vergessen.
Und das war wirklich der Fall. Jahr nach Jahr verging, und das alte Nachbarhaus wäre kaum mehr erwähnt worden, hätte der ewig dauernde Proceß die Aufmerksamkeit der Stadt nicht gewaltsam darauf festgehalten. Alles in der Welt nimmt jedoch zuletzt einmal ein Ende, und selbst dieser Proceß schien sich dem seinigen zu nähern. Die verschiedenen Parteien der jetzt noch lebenden Erben hatten es nämlich endlich doch satt bekommen, mit dem, was ihnen Nutzen bringen konnte, wenn sie sich darüber einigten, eine Anzahl von Advocaten und Beamten zu ernähren, und zeigten sich einer Übereinkunft geneigt.
Verwickelt genug war die Geschichte. Der alte selige Herr Quetzlinberger hatte einen einzigen Sohn gehabt, der also auch nach seinem Tode Universalerbe geworden wäre. Wunderbarer Weise, wie die alten Acten sagten, war dieser aber mehrere Jahre vor des alten Herrn Tode eines Morgens spurlos verschwunden gewesen, und man hatte trotz aller Nachforschung der Gerichte nie herausbekommen können, was aus ihm geworden.
Der alte Mann schien sich das aber entsetzlich zu Herzen genommen zu haben und schloß sich vollkommen von der Welt ab. Nur eine Haushälterin von gesetztem Alter besorgte ihm die Wirtschaft und hielt das Haus in Ordnung, das von da an kein fremder Fuß mehr betreten durfte. Wenn dann auch böse Zungen nicht müßig waren, gehässige Gerüchte darüber zu verbreiten, gelangte das entweder nicht zu den Ohren des alten Herrn, oder er bekümmerte sich auch nicht darum. Diese Gerüchte fanden allerdings neue Nahrung, als die Nachbarn des alten Herrn einen Knaben bei ihm am Fenster sahen, von dem es bald hieß, daß er ein Neffe, bald, daß er ein Adoptivsohn sei.
Die guten Frauen von Hellburg gaben sich damals die größte Mühe, Näheres über die Abstammung des Knaben zu erfahren, hoch umsonst. Nicht einmal auf die Straße herunter durfte der Kleine; ja, so selten zeigte er sich selbst am Fenster, daß nur erst Wenige ihn dort gesehen hatten und Viele sogar noch seine Existenz bezweifelten.
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