083 - Das Gasthaus an der Themse
Edgar Wallace
Das Gasthaus an der
Themse
Ungekürzte und neuübersetzte Ausgabe
1
In der Dunkelheit eines nebligen Morgens glitt ein Ruderboot stromabwärts. Die Riemen bewegten sich im gleichen Takt, denn die beiden Männer, die sie führten, waren geübte Ruderer. Sie hielten dicht am Ufer von Surrey und folgten damit einem unüblichen Kurs, da sie aus guten Gründen in der Nähe der vor Anker liegenden Flußschiffe bleiben mußten. Diese bildeten einen Hintergrund, mit dem das Boot gewissermaßen verschmelzen konnte.
Irgendwo im Osten ging die Sonne auf, aber der Himmel blieb dunkel und verhangen. Auf dem Fluß und an Land brannten Lichter. Billingsgate Market war strahlend hell erleuchtet, und über den Kais, an denen Frachtkähne vertäut lagen, blinkten weiße Bogenlampen wie Sterne. Der Fluß erwachte. Kleine Hilfsmotoren tuckerten, Drehkräne ratterten und quietschten, Ankerketten rasselten. Das Ruderboot hatte jetzt die lange Reihe der Flußschiffe hinter sich gelassen und zeigte mit der Nase zum nördlichen Ufer, als vor dem dunklen Himmel ein noch dunklerer Schatten sichtbar wurde. Der Schlagmann wandte den Kopf und entdeckte die Umrisse einer Barkasse, die auf seinem Kurs quer im Fluß lag. Er ließ die Ruder sinken. »Wade!« brummte er. Aus der Dunkelheit rief eine vergnügte Stimme: »Hallo, mein Lieber! Wohin des Weges?« Mit einem geschickten Manöver legte sich die Polizeibarkasse längsseits. Jemand schlug einen Bootshaken in die Seitenwand des Bootes. »Ich bin's doch bloß, Inspektor Wade«, sagte der zweite Ruderer. Er hatte eine hohe, piepsige Stimme und unterbrach seinen Redefluß immer wieder durch ein geradezu zwanghaftes Schnüffeln. »Tatsächlich, es ist Mr. Offer!« Die Stimme auf der Polizeibarkasse heuchelte übertriebenes Staunen. »Schnüffel-Offer! Was haben denn Sie um diese Zeit hier zu suchen? An einem so rauhen Morgen, an dem junge Menschen von schwacher Gesundheit noch brav im Bettchen liegen sollten. Kommen Sie, lassen Sie sich mal ansehen!« Ein starker Scheinwerfer flammte auf und durchleuchtete den kleinen Kahn mit schonungsloser Gründlichkeit bis in jeden Winkel. Die beiden Männer, die mit den Rudern in den Händen stocksteif dasaßen, blinzelten, weil das grelle Licht sie blendete. »Was haben wir denn da?« fragte die verhaßte Stimme Inspektor John Wades. »Das sieht ja aus wie eine Kiste Whisky — und, meiner Seel', da ist auch noch eine zweite.« »Wir haben sie aus dem Fluß geholt«, sagte der Mann, den Wade »Schnüffel« genannt hatte. »Sie trieben einfach so im Wasser, und da haben Harry und ich sie rausgefischt.« »Gefischt habt ihr? Darauf könnte ich wetten! Macht euer Boot fest, und kommt zu mir auf die Barkasse. Aber ein bißchen dalli!« Die beiden Flußdiebe sagten nichts, bis sie auf der Barkasse waren, die Kurs auf das Stationsgebäude der Flußpolizei nahm.
»Um uns zu erwischen, brauchen Sie sich nicht besonders anzustrengen, Inspektor«, sagte Schnüffel plötzlich gehässig. »London ist so voll von Mördern und Räubern, die nie gefaßt werden, aber Sie sind hinter ein paar kleinen Ganoven her. Denken Sie an die Frau, die man mit durchgeschnittener Kehle in Cranston Gardens gefunden hat — denken Sie an die Gummimänner ...« »Halt den Mund!« knurrte sein Freund. »Nur weiter so, Schnüffel«, sagte Inspektor Wade hingegen freundlich. »Ich bin nicht so empfindlich. Sie erwähnen die Gummimänner, haben Vorwürfe erhoben und versucht, mich und die Stadtpolizei zur Schnecke zu machen.
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