»Verständigt alle Polizeistationen.« In sein Büro zurückgekehrt, sah er sofort, daß die Verbrecher den goldenen Siegelring mitgenommen hatten. Jetzt glaubte er, das Motiv für die Ermordung des Chinesen zu kennen. Er hatte seine Komplizen verraten wollen und zum Beweis dafür, daß er die Wahrheit sagte, die Fassungen mitgenommen. Da er stumm gewesen war und sich nicht verständlich machen konnte, hatte er den Ring entweder mitgebracht, weil er ein Hinweis auf die Identität eines Bandenmitglieds war, oder er hatte ihn aus Rache gestohlen. Letzteres schien am wahrscheinlichsten. Die Gummimänner hätten nicht das Risiko auf sich genommen, den Ring zurückzuholen, wenn er nicht eine ganz besondere Bedeutung gehabt hätte. Was später als »Zwischenfall vom Haymarket« in die Polizeiakten Eingang fand, ereignete sich am selben Abend gegen zehn Uhr.
Um diese Stunde verwandelt sich das West End mehr oder weniger in eine menschenleere Geisterstadt. Die Theater sind ausverkauft, die wartenden Wagen parken in langen Reihen in dunklen Seitenstraßen, und auf dem Piccadilly Circus herrscht kaum Verkehr, so daß er auch nicht geregelt werden muß. Später, wenn die Theater sich leeren, kommt es gewöhnlich für kurze Zeit zu einem Chaos, um zehn Uhr jedoch sind die Straßen ein Paradies für den ängstlichen Autofahrer. Zwei Männer schlenderten über den Haymarket und bogen zum St. James's Square ein. Sie unterhielten sich lebhaft und schienen die Frau nicht zu sehen, die an der Ecke stand. Ein Polizist, der in dieselbe Richtung ging wie die Männer und dicht hinter ihnen war, sah, wie die Frau plötzlich auf einen der beiden Passanten losstürzte und ihn am Mantel packte. Es entwickelte sich eine kleine Balgerei. Der Polizist hörte die Frau mit schriller Stimme etwas schreien, stürmte vorwärts und zog sie weg. »Ich kenne dich!« schrie sie.
Inzwischen liefen zwei weitere Polizisten auf die vier Leute zu, um die sich - wie das in London so oft der Fall ist - im Handumdrehen eine kleine Menschenmenge versammelt hatte, obwohl doch die Straßen wie ausgestorben wirkten. »Ich kenne diese Frau nicht«, sagte der größere der beiden Männer. »Sie hat sich einfach auf mich gestürzt. Lassen Sie sie gehen, ich denke, sie ist betrunken.«
»Ich bin nüchtern! Du weißt genau, daß ich nüchtern bin, Starcy! Ja, Starcy — so heißt er nämlich!« Sie wehrte sich wie eine Wildkatze gegen die Polizisten, die sie festhielten. »Sie müssen leider Anklage gegen sie erheben, Sir«, sagte der Polizist, der als erster zur Stelle gewesen war. Der Angegriffene wäre lieber unauffällig verschwunden, doch das war jetzt nicht mehr möglich. »Ich wünsche keine strafrechtliche Verfolgung«, sagte er. »Hier ist meine Karte. Sie sehen, daß ich nicht Starcy heiße. Die Frau habe ich noch nie gesehen.« Leise und nur für die Ohren des Polizisten bestimmt, fügte er noch etwas hinzu, aber der Beamte schüttelte den Kopf. »Das geht leider nicht, Sir«, entgegnete er. Und dann erschien eine neue Figur auf der Szene. Ein untersetzter, rotgesichtiger Mann arbeitete sich durch die gaffende Menge. Er war leicht angeheitert, und der Polizist kannte ihn offensichtlich, denn er tippte grüßend an seinen Helm. »Guten Abend, M'lord«, sagte er.
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