Manchmal wünschte sie sich ein anderes Leben, und sie hatte auch eine unklare Vorstellung davon, wie dieses Leben sein sollte. Es gab da Bäume und weite Rasenflächen wie im Greenwich Park und Menschen, die freundlich und rücksichtsvoll zueinander waren. Davon träumte sie meistens, wenn sie die Schiffe auf dem Fluß beobachtete. Sie träumte auch jetzt, als sie den Tee einschenkte und das schlampige Hausmädchen mit der dicken Tasse und den noch dickeren Butterbroten in Zimmer sieben schickte. Das kleine rechteckige Fenster, das die muffige Küche mit frischer Luft versorgte, stand weit offen. Es war ein kalter Morgen, aber die Sonne malte ein blaßgoldenes Muster auf das Wasser des Flusses. Plötzlich blickte Lila auf. Vom Kai her schaute ein Mann zu ihr herüber — ein hochgewachsener Mann mit einem anziehenden, gebräunten Gesicht. Er trug keinen Hut, und sein kurzgeschnittenes braunes Haar war leicht gewellt. »Guten Morgen, Prinzessin!« Sie lächelte ihm verschüchtert zu, und als das Lächeln erloschen war, sah ihr Gesicht noch ernster aus als vorher. »Guten Morgen, Inspektor Wade«, sagte sie und geriet dabei ein bißchen außer Atem. Er war der einzige Mensch, der diese Wirkung auf sie ausübte. Sie fürchtete sich vor ihm nicht etwa seines ehrenrührigen Berufs wegen. Mutter Oaks sagte immer. Polizisten seien nichts anderes als Ganoven, die nicht den Mut hätten, Diebe zu sein. Wade machte Lila auch nicht deshalb so nervös, weil sie sich immer nur heimlich treffen konnten. Er bedeutete ihr ungeheuer viel. Warum das so war, ahnte sie allerdings nicht, und das brachte sie völlig durcheinander. Lange Zeit hatte sie in ihm einen alten Mann gesehen — einen Mann, fast so alt wie Golly. Und eines Tages war sie selbst erwachsen und erkannte, daß er derselben Generation angehörte wie sie.
Er stellte ihr nie peinliche Fragen und versuchte auch nicht, sie über »Familienangelegenheiten« im engeren und weiteren Sinn auszuhorchen. Das wütende Kreuzverhör, dem Mutter Oaks sie nach jedem Treffen mit Wade unterzog, ergab nie etwas Beunruhigendes. »Warum nennt man Sie eigentlich ›Polyp‹, Inspektor Wade?« hatte Lila ihn einmal gefragt und war über ihre Worte schon erschrocken, ehe sie zu Ende gesprochen hatte. »Hatten Sie als Kind vielleicht mal Polypen?« hatte er ernsthaft zurückgefragt. »Nein? Nun, wahrscheinlich bin ich manchen Leuten so lästig, Prinzessin.« Er hielt inne und sah sie merkwürdig an. »Wie ist das, hatten Sie wieder einmal Ihr Erlebnis ‹?«
Die Frage versetzte Lila in große Erregung. »Ich wünschte, Sie könnten vergessen, daß ich das je gesagt habe«, antwortete sie mit einem raschen, ängstlichen Blick zur Tür. »Es war albern von mir, und es war nicht die Wahrheit, Inspektor Wade. Ich wollte nur angeben . . .«
»Sie können gar nicht lügen«, unterbrach er sie gelassen.
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