Er war ehemals Schiffssteward gewesen, und wenn er getrunken hatte, verstieg er sich zu der Behauptung, er habe es bis zum Zahlmeister gebracht. Einmal, bei einer ganz besonderen Gelegenheit, hatte er sogar erklärt, er sei Kapitän eines Linienschiffes gewesen, das den Atlantik befuhr. Aber hinterher war er sehr krank geworden.

Mit Vorliebe sang er mit hoher Falsettstimme sentimentale Balladen, und er hatte ein Faible dafür, an sich Ähnlichkeiten mit bekannten Filmhelden zu entdecken. In unbeachteten Momenten versuchte er sich selbst in der Schauspielkunst, wobei er sich an einen Leitfaden mit dem Titel »Zehn Schritte zum Filmruhm« hielt, den ein »Wohlbekannter Spitzendarsteller aus Hollywood« verfaßt hatte - ein Mann, der so berühmt war, daß er es nicht nötig hatte, seinen Namen unter das Opus zu setzen.

Mr. Golly Oaks' Neigung galt der großen Oper nicht weniger als dem Film. Die Pensionsgäste des »Mekka«-Clubs rissen oft ihre Fenster auf und taten lauthals ihre Meinung über Gollys Stimme kund, denn er sang am besten, wenn er Holz hackte -und er schien immer Holz zu hacken.

Obwohl sie »Mutter« genannt wurde, hatte Annabel Oaks nichts Mütterliches an sich. Sie war mager, fast dürr und trug einen Bubikopf, was sie nicht schöner machte, denn das von dünnen grauen Haarsträhnen eingerahmte Gesicht war hart, beinahe abstoßend. Ein Teil ihrer Gäste nannte sie - hinter ihrem Rücken — »das alte Reibeisen«, doch für wenigstens hundert junge Seeleute auf allen sieben Meeren war sie »Mutter« Oaks. Der »Mekka«-Club war halb Holz- und halb Ziegelbau. In dem aus Ziegeln errichteten Teil, der ehemaligen Mälzerei eines Brauhauses, befanden sich die komfortabelsten Zimmer. Vor dem Club zog sich ein schmaler Rasenstreifen hin, auf dem zwei Gartenbänke standen. Jahr um Jahr säte Golly unterhalb des Hauses Blumen an, aber nie kam auch nur eine einzige Blüte heraus. Beim Fischen war Golly genauso erfolglos. Die Fenster des Clubhauses boten eine schöne Aussicht. Auf dem breiten Fluß wimmelte es von Schiffen. Am anderen Ufer, das zur Grafschaft Surrey gehörte, war bei Fenny's gewöhnlich eine Seilfähre vertäut. In der Nähe ankerten die deutschen Schiffe. An den hohen Masten der Überseedampfer flatterten die Wimpel, und an den Kais lagen meist ein oder zwei Frachter. Lila Smith stand oft an dem großen Fenster des Speisesaales und beobachtete fasziniert das Leben und Treiben auf dem Fluß. Dampfer glitten langsam und vorsichtig stromaufwärts. Die Positionslichter der Fischerboote blitzten. Da gab es die Orangenfrachter aus Spanien und die großen Schlepper, die »Herren« des Flusses - »Johnny O« und »Tommy O«, »John und Mary« sowie »Sarah Lane« und die »Fairway«. Lila erkannte sie alle, selbst bei Nacht.

Clubgäste, die von großer Fahrt zurückkehrten, stellten erstaunt fest, daß Lila plötzlich kein Kind mehr war. Mit dem runden Gesichtchen und den großen Augen war sie immer hübsch gewesen, doch jetzt besaß sie einen schwer zu beschreibenden Charme. Ihre Züge hatten sich gefestigt, und das verlieh ihr einen besonderen Reiz. Auch jetzt stand sie am Fenster, eine zarte Gestalt in einem schäbigen schwarzen Kleid und Schuhen mit schiefgelaufenen Absätzen. Vom tiefen Heulen einer Sirene oder dem ungeduldigen Hupen eines Schleppers angelockt, sah sie auf den Fluß hinaus. »Stehst du schon wieder rum und hältst Maulaffen feil!« keifte Mutter Oaks, die eben hereingekommen war und das Mädchen bei seiner Lieblingsbeschäftigung ertappt hatte. »Reiß dich ein bißchen zusammen! Die Neue auf Nummer sieben will Tee.« »Ja, Tante.« Lila lief in die Küche. Die krächzende, nörgelnde Stimme jagte ihr Angst ein — hatte ihr schon immer Angst eingejagt.