»Freilich sehe ich sie.«
»Nun, es wäre eine Dummheit, sie in die Luft zu sprengen, weil sie anderswo wieder aufgebaut würde. Allein ich sage Ihnen zum voraus, sie wird von selbst in die Luft fliegen, wenn der Staat sie enteignet hat und logischerweise das einzige und allgemeine nationale Bankhaus geworden ist. Wer weiß; dann wird sie vielleicht für unsre allzu großen Reichtümer als öffentliches Lagerhaus dienen oder als eine der Korn- und Vorratskammern, aus welchen unsre Enkelsöhne reiche Mittel für ihre Festlichkeiten schöpfen werden!«
Mit weitausholender Gebärde eröffnete Sigismund die Aussicht auf diese künftige allgemeine Wohlfahrt. So sehr hatte ihn das Gespräch aufgeregt, daß er jetzt von einem neuen Hustenanfall erschüttert ward. Er setzte sich wieder an seinen Tisch, die Ellenbogen fest auf seine Papiere gestemmt, den Kopf in den Händen, um das Röcheln zu ersticken, das ihm schier die Kehle zerriß. Diesmal aber war der Anfall nicht zu stillen.
Plötzlich tat sich die Türe auf, und Busch, der die Méchain entlassen hatte, stürzte verstört herein, als habe ihn dieser schreckliche Husten selbst hart mitgenommen. Sofort neigte er sich zu seinem Bruder herab und schlang seinen langen Arm um ihn, wie um einen Knaben, dessen Schmerzen man schmeichelnd einlullt.
»Nun, lieber Kleiner, was hast du schon wieder, daß du ersticken willst? Weißt du, ich verlange, daß du einen Arzt kommen läßt! Das ist ja unvernünftig, du wirst sicherlich wieder zu viel gesprochen haben!«
Und er warf einen bösen Seitenblick auf Saccard, der immer noch mitten im Zimmer stand, heftig erschüttert durch alles, was er aus dem Munde dieses so feurigen und so kranken Menschen vernommen hatte, der von seinem Dachfenster aus ein böses Los auf die Börse werfen wollte, mit seinen dummen Geschichten von allgemeinem Hinwegfegen und von allgemeinem Wiederaufbauen.
»Ich danke Ihnen, ich gehe«, sagte der Besucher, den es ins Freie zu kommen drängte. »Schicken Sie mir meinen Brief mit den paar Zeilen Übersetzung ... Ich erwarte noch andre, wir wollen alles zusammen abmachen.«
Aber der Anfall war vorüber, und Busch hielt ihn noch einen Augenblick zurück.
»Ach, was ich noch sagen wollte! Die Frau, die soeben hier war, hat Sie ehemals gekannt, o, es ist lange her!«
»So? Wo denn?«
»Im Jahre 1852, in der Rue de la Harpe.«
Trotz seiner Selbstbeherrschung wurde Saccard bleich, ein nervöses Zucken zerrte an seinem Mund. Nicht als ob er in diesem Augenblick sich an die Kleine erinnerte, die er auf der Treppe überfallen hatte, er hatte nicht einmal von ihrer Schwangerschaft und dem Dasein eines Kindes gewußt, aber die Erinnerung an die elenden Anfangsjahre war ihm jederzeit höchst unangenehm.
»Rue de la Harpe! Ja, ich habe nur acht Tage dort gewohnt, bei meiner Ankunft in Paris, bis ich eine Wohnung hatte! ... Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen!« wiederholte Busch scharf.
Er sah irrtümlich in dieser Verlegenheit ein stummes Geständnis und suchte schon, auf welche ergiebige Art er jenes Abenteuer ausbeuten wollte.
Als Saccard wieder auf der Straße stand, lenkte er seine Schritte unwillkürlich wieder zum Börsenplatz. Es schauerte ihn noch; er schaute nicht einmal auf die kleine Frau Conin, deren hübsches blondes Gesicht an der Türe des Papierladens lächelte.
Auf dem Börsenplatz war die Erregung gestiegen; das Geschrei der Spieler hallte mit der entfesselten Heftigkeit einer Hochflut an den Gehwegen wider, auf denen es von Leuten wimmelte. Es war der letzte Aufschrei um dreiviertel drei Uhr, der Kampf um die Schlußkurse, das wütende Ringen, wer mit vollen Händen von dannen gehen sollte.
Wie er an der Ecke der Börsenstraße der Säulenhalle gegenüberstand, meinte er im bunten Gewühl unter den Säulen den Baissier Moser und Haussier Pillerault zu erkennen, die miteinander stritten, während er aus dem Hintergrund des großen Saales die schrille Stimme des Maklers Mazaud zu vernehmen glaubte, hie und da durch die lauten Worte Nathansohns übertönt, der bei der Kulisse unter der Uhr stand. Fast hätte ein Wagen, der dicht an die Gosse heranfuhr, ihn über und über bespritzt.
Massias sprang heraus, noch ehe der Kutscher hielt, erklomm die Stufen mit einem Satze und brachte atemlos eine letzte Order.
Saccard stand immer noch regungslos da; die Augen auf das Gewühl dort oben gerichtet, kaute er seinen Lebensgang wieder, gepeinigt durch die Erinnerung an seine Anfangszeit, welche Buschs Frage wachgerufen hatte. Er gedachte der Rue de la Harpe und der Rue Saint-Jacques, in denen er mit krummgetretenen Stiefeln herumgelaufen, ein beutesüchtiger Eroberer, der zur Unterwerfung von Paris ausgezogen und nunmehr gelandet war. Und neue Wut ergriff ihn beim Gedanken, daß er es noch nicht unterworfen hatte, daß er wieder einmal auf das Pflaster geworfen war, auf den Reichtum lauernd, unbefriedigt, von einem Heißhunger nach Genüssen gequält, wie er ihn noch nie empfunden hatte. Dieser verrückte Sigismund sagte ganz richtig: von der Arbeit kann man nicht leben, die Elenden und die Dummköpfe allein arbeiten, um die andern zu mästen. Das Spiel ist das einzig Richtige, das Spiel, welches über Nacht mit einem Schlag Wohlstand, Luxus, Wohlleben, das volle und ganze Leben gibt! Wenn die alte Gesellschaft doch eines Tages zusammenstürzen sollte, könnte nicht ein Mann wie er noch vor dem großen Endkrach Zeit und Raum zur Befriedigung seiner Gelüste finden?
Jetzt wurde Saccard von einem Vorübergehenden gestreift, der sich nicht einmal umsah, um sich zu entschuldigen. Er erkannte Gundermann, der seinen kleinen Gesundheitsspaziergang machte, und sah ihn in einen Konditorladen eintreten, aus welchem der Finanzkönig seinen Enkelinnen hie und da eine Bonbonsschachtel für einen Franken mitbrachte. Dieser Rippenstoß in diesem Augenblick, da seine Fieberhitze den höchsten Grad erreicht hatte, seitdem er so um die Börse herumlief, war der letzte Antrieb, der Peitschenschlag, unter dem er sich zum festen Entschluß aufraffte. Er hatte den Platz vollends umzingelt, er wollte jetzt den Sturm wagen. Es war der Schwur eines erbarmungslosen Kampfes. Nun wollte er Frankreich nicht verlassen und seinem Bruder Trotz bieten; den letzten Trumpf wollte er ausspielen, den allerverwegensten Streich wagen, der ihn zum Zwingherrn über Paris aufwerfen oder mit zerschmetterten Rippen in die Gosse schleudern sollte.
Bis zum Börsenschluß blieb Saccard hartnäckig und drohend auf seinem Beobachtungsposten stehen. Er sah, wie die Säulenhalle sich leerte, wie die Stufen mit der langsam weggehenden, abgehetzten und ermatteten Schar sich allmählich bedeckten. Um ihn herum dauerte das Gewoge auf dem Pflaster und auf den Gehwegen fort; ununterbrochen fluteten die Menschen hin und her, die ewig auszubeutende Menge, die Aktionäre von morgen, die an diesem großen Hasardspiel der Spekulation nicht vorübergehen konnten, ohne umzublicken, in sehnsuchtsvoller Scheu vor dem, was hier vorging, vor dem Geheimwesen der Finanzoperationen, das für französische Köpfe um so verlockender ist, als nur wenige in dasselbe eindringen.
II
Als nach seiner letzten heillosen Affäre mit den Bauplätzen Saccard sein Hotel am Park Monceaux verlassen und seinen Gläubigern preisgeben mußte, um eine noch größere Katastrophe abzuwenden, da war sein erster Gedanke gewesen, sich zu seinem Sohne Maxime zu flüchten. Seit dem Tode seiner Frau, die in einem kleinen Kirchhof der Lombardei ruhte, bewohnte Maxime allein ein Haus in der Avenue de l'Impératrice und hatte daselbst sein Leben mit wohlüberlegter und hartherziger Selbstsucht eingerichtet. Dort verzehrte er ohne jede Ausschreitung das Vermögen der Toten, als schwächlicher, vom Laster früh gereifter Bursche. Rundweg schlug er seinem Vater die Bitte ab, ihn bei sich aufzunehmen, damit zwischen beiden das gute Einverständnis nicht gestört werde, wie er mit seiner lächelnden und verständigen Miene erklärte.
Seitdem dachte Saccard an einen andern Zufluchtsort. Schon wollte er sich in Passy ein Häuschen mieten, ein bürgerliches Ruheplätzchen wie für einen früheren Kaufmann, als er sich erinnerte, daß im Hotel Orviedo in der Straße Saint-Lazare Erdgeschoß und erster Stock immer noch unvermietet wären, wie aus den geschlossenen Türen und Fenstern zu schließen war. Die Fürstin von Orviedo bewohnte seit dem Tod ihres Gemahls drei Zimmer im zweiten Stock und hatte nicht einmal ein Täfelchen über das Haupttor hängen lassen, an dem das Gras schon emporwuchs.
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