– Ein Kellner stand vor Saccard.
»Was wünschen der Herr?«
»Ja, so! Was Sie wollen – ein Kotelett mit Spargeln!«
Dann rief er den Kellner zurück:
»Sind Sie sicher, daß Herr Huret nicht vor mir hierhergekommen und wieder fortgegangen ist?«
»Ja, ganz sicher!«
So weit war's also mit ihm gekommen nach dem Krach, der im letzten Oktober ihn wieder einmal gezwungen hatte, zu liquidieren und sein Hotel im Park Monceaux zu verkaufen, um eine Mietswohnung zu beziehen. Nur Leute wie Sabatani grüßten ihn zuerst; bei seinem Eintritt in ein Restaurant, in dem er Herrscher gewesen, wandten sich nicht mehr alle Köpfe nach ihm um, streckten sich ihm nicht mehr alle Hände entgegen. Wohl war er ein nobler Spieler und hegte keinen Groll wegen der letzten Affäre mit den Bauplätzen, dieses skandalösen Krachs, aus dem er kaum das nackte Leben gerettet hatte. Aber jetzt entbrannte in seinem Herzen fieberhafter Rachedurst, und die Abwesenheit Hurets, der sich förmlich verpflichtet hatte, schon um elf Uhr da zu sein, um ihm über die Schritte Rechenschaft abzulegen, die er in seinem Auftrage bei seinem, Saccards, Bruder Rougon getan, dem damals allmächtigen Minister, erbitterte ihn ganz besonders gegen diesen letzteren. Huret, ein gefügiger Abgeordneter, eine Kreatur des großen Mannes, war ja nur Mittelsperson. Aber Rougon, der alles vermochte – war es möglich, daß er ihn so im Stich ließ? Nie hatte er sich gegen ihn als guten Bruder gezeigt. Daß er nach der Katastrophe böse geworden war, daß er offen mit ihm gebrochen hatte, um nicht selbst kompromittiert zu werden, das war am Ende erklärlich; aber hätte er innerhalb dieser sechs Monate ihm nicht heimlich zu Hilfe kommen sollen? Und jetzt – konnte er wirklich den Mut haben, ihm die allerletzte Hilfe zu verweigern, um die er durch einen Dritten bitten ließ? Ihn persönlich aufzusuchen wagte er nicht, aus Furcht vor einem unzeitigen Zornesausbruch. Der Gewaltige brauchte nur ein Wort zu sagen, dann wäre er wieder fest auf den Beinen und das ganze feige und große Paris zu seinen Füßen.
»Welchen Wein wünscht der Herr?« fragte der Weinkellner.
»Von Ihrem Bordeaux-Tischwein!«
Saccard ließ sein Kotelett kalt werden, in Gedanken versunken und ohne Hunger. Er blickte auf, als er einen Schatten über den Tisch huschen sah. Massias war es, ein dicker Mann mit rötlichem Gesicht, ein Kommissionär, den er als armen Teufel gekannt hatte und der nun zwischen den Tischen durchschlüpfte, seine Notierung in der Hand. Es verletzte ihn tief, daß dieser Mensch, ohne stehenzubleiben, an ihm vorbeiging, um Pillerault und Moser den Kurszettel vorzulegen. Zerstreut und in einer Erörterung begriffen, warfen diese kaum einen Blick darauf. Nein, sie hätten heute keine Order, vielleicht ein andermal. Massias traute sich nicht an den berühmten Amadieu heran, der über einen Hummersalat gebeugt saß und mit Mazaud sich leise unterhielt; er ging auf Salmon zu, der die Notierung in die Hand nahm, lange studierte und wortlos zurückgab.
Im Saale stieg die Erregung; jeden Augenblick traten andre Kommissionäre ein, daß die Türen klappten. Laute Worte wurden aus der Entfernung gewechselt; die leidenschaftliche Flut der Geschäfte stieg und wuchs empor, je weiter die Stunde vorrückte. Saccard aber, dessen Blicke immer wieder nach außen schweiften, sah jetzt, wie auch der Börsenplatz sich allmählich füllte, wie Wagen und Fußgänger herbeiströmten, während auf den sonnenbestrahlten Stufen der Börse einzelne Männer wie schwarze Flecken sichtbar wurden.
»Ich wiederhole Ihnen«, sagte Moser mit seiner jammernden Stimme, »daß diese Nachwahlen vom zwanzigsten März ein höchst beängstigendes Symptom sind ... Nunmehr ist ganz Paris der Opposition überantwortet.«
Aber Pillerault zuckte mit den Achseln: Carnot und Garnier-Pagès als Zuwachs auf den Bänken der Linken! Was konnte daran liegen?
»Geradeso ist's mit der Herzogtümerfrage«, begann Moser wieder, »sie ist voll Komplikationen. Ja, ja ... so ist's, wenn ihr mich auch auslacht. Ich meine zwar nicht, daß wir Preußen den Krieg erklären sollen, um die Besitzergreifung Dänemarks zu verhindern; allein es gäbe andre Mittel zur Aktion ... Ja, ja, wenn die Großen anfangen, die Kleinen aufzufressen, dann weiß man nie, wo das aufhören soll ... Und mit Mexiko ...«
Pillerault, der heute in einer Stimmung allumfassender Zufriedenheit war, unterbrach ihn mit lautem Gelächter.
»Nein, nein, mein Bester! Lassen Sie uns in Ruhe mit Ihrer Angst wegen Mexikos ... Mexiko gibt einmal die glorreichste Seite in der Geschichte der Regierung ... Woher wissen Sie zum Teufel, daß das Kaiserreich krank ist? Ist im Januar die Dreihundert-Millionen-Anleihe nicht mehr als fünfzehnfach überzeichnet worden? Ein überwältigender Erfolg! ... Hören Sie, wir wollen im Jahre siebenundsechzig wieder miteinander reden, ja, in drei Jahren, bei Eröffnung der Weltausstellung, die der Kaiser beschlossen hat!«
»Ich sage Ihnen, daß alles schlecht steht«, behauptete Moser verzweiflungsvoll.
»Ei, lassen Sie uns jetzt zufrieden, alles steht gut!«
Salmon blickte von einem zum andern mit seinem vielsagenden Lächeln. Saccard aber, der dieses Gespräch gehört hatte, verglich die Krisis, in welche das Kaiserreich einzutreten schien, mit den Schwierigkeiten seiner eignen Lage. Wieder einmal lag er zu Boden: sollte das Kaiserreich, das ihn groß gemacht, gleich ihm zusammenbrechen und mit einem Male vom höchsten Glück zum tiefsten Elend hinunterstürzen? Jawohl, seit zwölf Jahren liebte und verteidigte er dieses Regime, unter dem er frisch aufgelebt, fühlbar emporgewachsen war und sich mit Lebenssaft und -kraft vollgesogen hatte wie der Baum, dessen Wurzeln sich in günstiges Erdreich einbohren. Aber wollte sein Bruder ihn aus diesem Boden herausreißen, wollte man ihn ausscheiden aus der Reihe derer, die den fetten Boden der Genüsse ausschöpften, dann sollte alles fortgeweht werden in dem großen Kehraus der Nachtfeste!
Jetzt wartete er auf seine Spargeln, seine Gedanken schweiften weit fort vom Saale, in dem die Aufregung unaufhörlich stieg; seine Erinnerungen hielten ihn gefangen. In dem großen Spiegel gegenüber hatte er sein Abbild gesehen, und es hatte ihn überrascht. Der Zahn der Zeit konnte seiner kleinen Persönlichkeit nichts anhaben, seine fünfzig Jahre sahen kaum aus wie achtunddreißig; es blieb bei seiner jugendlichen Magerkeit und Lebhaftigkeit.
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