Es weiß, daß ich mit ihm nichts zu tun haben will, ich habe es erklärt und bleibe dabei, aber es fragt doch, das Kind...«
Pavel war zusammengefahren, er riß die Augen weit auf, seine Nasenflügel bebten: »Welches Kind? – die Milada?«
»Wann wird mein Pavel zu mir kommen?« wiederholte die Baronin erregt und gerührt und mit den Tränen kämpfend. »Aber kann ich dich zu ihr schicken, Dieb, schlechter Bub, schlechtester im Dorfe! ... kann ich denn?«
»Schicken Sie mich«, sagte Pavel leise.
Der Lehrer zog die Schultern in die Höhe, schob die Kinnlade vor und machte ihm die eindringlichsten Zeichen: »Haben Euer Gnaden die Gnade, ich bitte untertänigst, Euer Gnaden! So spricht man.«
Pavel aber zermarterte seine verschränkten Finger; seine Brust hob sich keuchend; mit einem trockenen Schluchzen sprach er noch einmal: »Schicken Sie mich.«
Die Baronin wandte sich dem Lehrer zu: »Es scheint ihm Eindruck zu machen.«
»Es macht ihm einen außerordentlichen Eindruck. Euer Gnaden haben das Rechte getroffen mit diesem weisen Beschluß...«
»Beschluß? Von einem Beschluß ist noch gar nicht die Rede.«
Den Einwand überhörend, fuhr der Lehrer fort: »Das unschuldige Kind wird besser als irgendwer auf sein Gemüt zu wirken verstehen, das Kind...«
»Das Kind«, fiel die Baronin ein, »ist der Stolz und der Liebling des Klosters.«
»Sehen Euer Gnaden! ... Und was könnte für den verwahrlosten Jungen heilsamer und aneifernder sein als der Anblick seiner wohlgeratenen Schwester, als ihr Beispiel, ihre Ermahnungen?«
»Vielleicht«, entgegnete die alte Dame nachdenklich. »Und so wollen wir es denn in Gottes Namen versuchen... Ein letztes Mittel. Schlägt das fehl, dann – mein Wort darauf: bei seiner nächsten Übeltat kommt er nicht mehr vor mein sondern vor das Bezirksgericht.«
»Hörst du's?« rief der Lehrer, und Pavel murmelte ein ungerechtfertigtes »Ja«. In Wirklichkeit wußte er nicht, was und ob überhaupt gesprochen worden, seitdem man ihm Hoffnung gemacht hatte, daß er seine Milada wiedersehen solle. Das unerreichbare Ziel seiner jahrelangen Sehnsucht stand plötzlich nahe vor ihm; sein heißester, in tausend Schmerzen aufgegebener Wunsch war ihm auf das unerwartetste erfüllt. Das Herz hüpfte ihm im Leibe; ein Jauchzen, das er nicht unterdrücken konnte, drang aus seiner Kehle; er wandte sich auf den Fersen: »Und jetzt geh ich zur Milada!« sagte er.
»Halt!« rief die Baronin, »bist närrisch? So ohne weiteres geht man nicht zur Milada. Jetzt trollst du dich nach Hause, und am Samstag kommst du ins Schloß und holst einen Brief für die Frau Oberin ab. Den wirst du ins Kloster tragen und bei der Gelegenheit vielleicht deine Schwester zu sehen bekommen.«
»Gewiß! ich werde sie gewiß zu sehen bekommen – wenn ich nur einmal dort bin!« sprach Pavel und schürzte mit einer unwillkürlichen Bewegung die Ärmel auf.
»Nicht gar zuviel Zuversicht«, versetzte die Baronin. Sie war müde geworden und schickte sich an, ihren früheren Platz wieder einzunehmen. Da sprang Pavel auf sie zu, schob sie hastig zur Seite und den Lehnsessel aus dem Bereich des Kronleuchters hinaus: »So«, rief er, »jetzt setzen Sie sich.«
Die Greisin war nahe daran gewesen, umzusinken, als sie statt des Stützpunktes, den sie suchte, einen Stoß erhielt. Mit einem Schrei der Angst klammerte sie sich an den in tiefster Ehrfurcht dargereichten Arm des Lehrers, der die gnädige Frau zu ihrem Sitz geleitete und dann betend vor Unwillen die Faust gegen Pavel erhob: »Was tust? was fälle dir ein – Spitzbube?«
Pavel deutete ruhig nach der Schnur des Lüsters: »Wenn das Strickerl reißt, ist sie ja tot«, sprach er.
»Esel! Esel! – fort! hinaus!« rief Habrecht, und der Junge gehorchte, ohne mit Abschiednehmen Zeit zu verlieren.
Die Baronin beruhigte sich allmählich und sagte: »Er ist blitzdumm, aber er hat wenigstens eine gute Absicht gehabt.«
»Das weiß Gott«, rief der Lehrer, »– wenn Euer Gnaden nur nicht so erschrocken wären!«
»Ach was! Daran liege nichts.« Sie zog das Taschentuch und drückte es an ihre Stirn. »Viel schlimmer ist, viel schlimmer, daß ich einmal wieder inkonsequent gewesen bin... Wie oft habe ich mir vorgenommen: Es bleibe dabei, meine Milada darf ihren Bruder nicht mehr sehen – und jetzt schicke ich ihn selbst zu ihr! ... Keine Willenskraft mehr, keine Energie – der geringste Anlaß, und – mein festester Vorsatz ist wie weggeblasen.«
»Kommt vom Alter, Euer Gnaden«, fiel Habrecht in liebenswürdig entschuldigendem Tone ein – »da können Euer Gnaden nichts dafür... Der Mensch ändere sich. Bedenken nur, Euer Gnaden! auch die Zähne, mit denen man in der Jugend die härtesten Nüsse knacke, beißt man sich im Alter an einer Brotrinde aus.«
»Ein unappetitlicher Vergleich«, erwiderte die Baronin; »verschonen Sie mich, Schullehrer, mit so unappetitlichen Vergleichen.«
7
In der Nacht vom Samstag auf den Sonntag schloß Pavel kein Auge. Er lag wie in Fieberhitze und meinte immer, jetzt und jetzt komme jemand, ihm den Brief abzufordern, den ihm die Baronin am Abend überschickt hatte und der ihm Einlaß ins Kloster verschaffen sollte. Sie konnte sich's anders überlegt, ihre Güte konnte sie gereut haben... Pavel kauerte sich zusammen auf seiner elenden Lagerstätte und faßte wilde Entschlüsse für den Fall, daß seine Besorgnisse in Erfüllung gehen sollten Indessen graute der Morgen, und Pavels eigene Hirngespinste blieben seine einzigen Bedränger. Dennoch verließ die Unruhe ihn nicht. Schon um vier Uhr stand er am Brunnen und wusch sich vom Kopf bis zu den Füßen, zog Hemd und Hose an und den Rock, der eine bedeutende Verschönerung erfahren hatte. Auf dessen schleißigster Stelle, gerade über dem Herzen, prangte ein bunter Flicken, ein handgroßes Stück Zeug, das beim Zuschneiden von Vinskas neuem Leibchen übriggeblieben war. Pavel nahm sich vor, es herabzutrennen und der kleinen Milada zu schenken, wenn es ihr so gut gefiele wie ihm.
Und so zog er rüstig und freudig aus und begegnete keiner lebenden Seele im ganzen Dorf. An der Mauer des Schloßgartens schlüpfte er besonders eilig vorbei, und nun ging's bergab und bergauf, immer mit der stillen Besorgnis: Wenn mir nur keiner nachläuft, um mich zurückzurufen.
Auf der Höhe angelangt, von welcher aus er vor fast zwei Jahren dem Wagen nachgeblickt, der seine Schwester entführte, atmete er freier. Er besann sich, wie schön er damals die Türme der Stadt hatte glänzen gesehen.
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