Heute lagerten Herbstnebel über ihnen und verbargen sie seinen Augen. Und auf dem Feld, das zu jener Zeit im Grün der jungen Halme geprangt, lagen große harte Schollen, vom Pfluge umgelegt, dessen Schaufel einen Metallglanz auf ihnen hinterlassen hatte. Er schritt weiter, verlor sein Ziel oft aus den Augen, verfolgte es aber mit dem Instinkt eines Tieres; es fiel ihm nicht ein, daß er's verfehlen könnte.

Drei Stunden war er gewandert, da hörte er zum ersten Male deutlich den Schlag der Uhr von einem der Kirchtürme schallen und langte bald darauf bei den kleinen Häuschen der Vorstadt an.

Die Brücke, von welcher er oft sprechen gehört hatte, lag vor ihm, und unter ihr rauschte ein so gewaltiges Wasser, wie er nicht gewußt hatte, daß es auf Erden gibt. Und das Wunder, das er anstaunt, Milada sieht es alle Tage, denkt Pavel; und Stolz auf die Schwester und Ehrfurcht vor ihr ergreifen ihn.

Am Brückenpfeiler sitzt ein altes Weib und hat Äpfel feil. Gewiß ißt Milada Äpfel noch ebenso gern wie früher – wie wär's, wenn er ihr ein paar mitbrächte? Die Hökerin kehrt ihm den Rücken zu; sie kramt eben in ihrer Vorratskiste; ihr ein paar Äpfel wegzumausen wär eine kleine Kunst... Soll er? soll er nicht? – Eine innere Stimme warnt ihn: Gestohlenes Gut taugt nicht mehr für Milada... Er steht und zaudert.

Da wendet sich die Alte, sieht ihn, rühmt ihre Ware und lädt ihn zum Kaufe ein.

»Ich hab kein Geld«, sagt Pavel zögernd.

Mit der Freundlichkeit der Hökerin ist es sogleich vorbei, und ihre Aufforderung lautet jetzt: »Wenn du kein Geld hast, so pack dich!«

Das ist wieder gewohnter Klang, Pavel fühlt sich angeheimelt, er fragt nun fast zutraulich nach dem nächsten Weg zum Fräuleinstift.

»Was willst du im Fräuleinstift?« brummt das Weib. »Wärst gestern gekommen. Am Samstag wird dort ausgeteilt.«

Pavel lügt, er weiß selbst nicht warum, und behauptet, das sei ihm wohl bekannt, wiederholt seine Erkundigung und wandelt, nachdem er sie erhalten, einem Hause zu, das sich wie eine riesige gelbgetünchte Schachtel am Ende des Platzes erhebt. Es hat auffallend kleine Fenster und an der Seite ein schmales Pförtchen, zu dem einige Stufen hinunterführen. Ratlos stehe er lange davor, pocht, rüttelt an der Klinke, aber die bleibt unbeweglich und sein Pochen ungehört. Eine Schar kleiner Jungen kommt daher; einer von ihnen springt die Treppe zur Klosterpforte hinab, hängt sich an den Glockenstrang, läßt ihn plötzlich zurückschnellen und läuft davon. Ein Geläute, das gar nicht enden wollte, drang aus dem Innern des Hauses; das Pförtchen öffnete sich, Pavel trat ein und stand weder vor einer geschlossenen Tür; doch hatte diese ein Glasfenster und gewährte den Einblick in eine Halle, deren ziemlich niedriges Gewölbe von freistehenden Säulen getragen wurde und deren Wände mit Feuchtigkeitsflecken bedeckt waren. Eine Nonne erschien, musterte den Besucher und fragte mit strenger Miene: »Warum schellst du so stark? Was willst du?«

»Meine Milada«, stammelte Pavel. Es überkam ihn plötzlich, daß er sich unter einem Dache mit seiner Schwester befand, und unleidlich wurde seine Ungeduld. »Wo ist sie?« rief er.

»Wen meinst du?« fragte die Klosterfrau. »Es gibt hier keine Milada, du bist wohl fehlgegangen.«

Schon wollte sie ihn abweisen, da erinnerte er sich des Talismans, den er bei sich trug, und überreichte den Brief.

Die Nonne betrachtete eine Weile die Aufschrift: »Ja so«, sagte sie. »Liebes Kind, deine Schwester heißt bei uns Maria. Du kannst sie jetzt nicht sehen, sie ist in der Kirche.«

Pavel erklärte, er wolle auch in die Kirche, und dabei nahm sein Gesicht einen so entschlossenen und bösen Ausdruck an, daß der Pförtnerin angst wurde. Sie bemühte sich, ihm begreiflich zu machen, daß er warten müsse, bis die Messe aus sein werde, führte ihn zu dem Ende in ein an die Halle anstoßendes Zimmer, ließ ihn dort allein und verschloß hinter ihm die Tür.

Da war er ein Gefangener. Der düstere Raum, in dem er sich befand, hatte keinen zweiten Eingang, dafür aber drei mit schweren bauchigen Gittern versehene Fenster. Sie öffneten sich auf einen mit Obstbäumen bepflanzten Rasenplatz, in dessen Mitte, altersgrau und verwittert, eine Muttergottesstatue stand, ein buntes Kränzlein auf dem Haupte, und Pavel dachte gleich, niemand anders als Milada habe das geflochten... Wenn sie doch käme, bald käme, wenn doch die Messe schon vorüber wäre! ... Glockenklang erhob sich, es wurde zum Sanktus geläutet; nun folgte die Wandlung, Pavel sank auf die Knie und betete inbrünstig: Lieber Gott, schick mir meine Schwester! Er sehnte sich, er hoffte, er wartete- die Glocken hatten längst zum letzten Segen geläutet, die Kleine erschien immer noch nicht. Und still war's ringsum wie in einer leeren Kirche. Kein Mensch im Garten zu erblicken, in der Halle kein Laut, kein Schritt zu hören. Pavel warf sich gegen die Tür und polterte mit Händen und Füßen, solange er konnte. Umsonst, niemand kam, ihn zu erlösen. – Erschöpft und verzweifelt sank er auf den Boden, zu Füßen eines großen Tisches, der nebst einigen an die Wände gerückten Stühlen die ganze Einrichtung der Stube bildete.

Sie kommt nicht, sie kommt nicht, und mich hat man eingesperrt und vergessen – das sagte er sich, anfangs mit zorniger Empörung über etwas Abscheuliches und Unerhörtes, zuletzt mit stumpfer Ergebung in das Unabänderliche. Sein Kopf wurde immer schwerer, seine Augen fielen zu, er schlief ein.