Pavel warf sich ihr entgegen; ehrfurchtsvolle Scheu hatte bisher seine Zunge gebunden, die Angst der Verzweiflung löste sie.
»Um Gottes willen, gütige, gebenedeite Klosterfrau«, rief er und faßte die Oberin am Kleide, »um Gottes willen, behalten Sie mich! Schicken Sie mich nicht ins Dorf zurück... Meine Milada sagt, daß ich brav werden soll, im Dorf kann ich nicht brav werden... Hier will ich's sein, behalten Sie mich hier... Im Dorfe bin ich ein Dieb und muß ein Dieb sein...«
»Kind, Kind, was sprichst du?« entgegnete die Ehrwürdige; »niemand muß ein Dieb sein, jeder Mensch kann sich sein Brot redlich verdienen.«
»Ich nicht!« schrie Pavel und wehrte sich mit allen Kräften gegen zwei Nonnen, die vorgetreten waren und das Gewand der Oberin aus seinen Händen zu lösen suchten, »ich nicht! ... Was ich verdiene, nimmt der Virgil und versauft's, und ich muß auch seine ganze Arbeit tun und bekomme nichts... Die Gemeinde sollte mir Kleider geben und gibt mir nichts... und wenn die Virgilova hingeht und sagt: Der Bub hat kein Hemd, der Bub hat keine Jacke, sagen sie: Und wir haben kein Geld... aber wenn sie auf die Jagd gehen wollen und ins Wirtshaus, dann haben sie immer Geld genug...«
Ungläubig schüttelte die Oberin den Kopf und machte Einwände, die Pavel widerlegte. Der wortkarge Junge sprach sich in eine wahre, derb zutreffende Beredsamkeit hinein. Was er vorbrachte, war nicht die Frucht langen Nachdenkens; die Erkenntnis seines ganzen Elends kam ihm zugleich mit derjenigen, daß es eine Rettung gehen könne aus diesem Elend, und jede neue Anklage gegen seine schlechte Adoptivmutter, die Gemeinde, und jeden neuen Ausbruch der Entrüstung und des Jammers schloß er mit dem leidenschaftlichen Beschwören: »Behalten Sie mich! Schicken Sie mich nicht ins Dorf zurück!« Allein – ob seine Augen sich angst- oder hoffnungsvoll auf die hohe Frau richteten, welcher er die Macht zuschrieb, sein trostloses Schicksal in ein glückliches zu verwandeln, immer begegneten sie demselben Ausdruck sanfter Unerbittlichkeit. Und wie sie vor sich hinblickte, unendlich fromm, unendlich teilnahmslos, so tat ihr ganzes Gefolge, und der schwer begreifende Pavel begriff endlich, daß er umsonst gebeten hatte.
»Geh, mein Kind«, sprach die Oberin, »geh mit Gott und bedenke, wo immer du wandelst, wandelst du unter seinen Augen und unter seinem Schutz. Und wenn er mit uns ist, was vermögen die Menschen wider uns? Was vermag ihr böses Beispiel und was die Versuchung, in welche ihr böses Beispiel uns führt? Geh getrost, mein Kind, und der Herr geleite dich.«
Sie gab der Pförtnerin einen Wink; diese eilte, die Tür der Halle zu öffnen. Stumm, ohne Gruß schritt Pavel dem Ausgang entgegen. Da ertönte plötzlich ein durchdringender Schrei. Milada, die bisher regungslos dagestanden, ohne den Blick, ohne das ein wenig heuchlerisch zur Seite geneigte Köpfchen auch nur einmal zu erheben, rannte ihrem Bruder nach: »Warte, ich geh mit dir!« rief sie, hing sich an seinen Hals, küßte ihn und schluchzte: »Armer Pavel! Armer Pavel!« Ganz außer sich schlug sie mit den kleinen Fäusten nach den Nonnen, die an sie herantraten und sie in sanft beschwichtigender Weise zur Ruhe ermahnten. Sie keuchte, sie wimmerte: »Lassen Sie mich! Ich will mit ihm gehen, weil er arm ist, weil er ein Dieb ist... Sehen Sie! sehen Sie! er hat Lumpen, er hat nichts zu essen, ich will auch Lumpen haben, ich will auch nichts zu essen haben, ich will nicht eine Heilige sein und in den Himmel kommen, wenn er in die Hölle kommt!«
Sie schrie, als ob sie sich mit Gewalt die Brust zersprengen wollte, und er, kämpfend zwischen seiner Bestürzung über die Heftigkeit und seiner Freude über diese unerwartete Äußerung ihrer Liebe, starrte sie an, beschämt, beglückt – und völlig ratlos und rührte sich nicht, als die Klosterfrauen einen dichten Kreis um ihn und Milada schlossen, die Arme der Kleinen von seinem Nacken lösten und sie, festgehalten an Händen und Füßen, emporhoben. Es geschah mit größter Schonung, ohne das geringste Zeichen von Ungeduld; ein tiefes Leid, ein inniges Bedauern war alles, was sich in den Mienen der frommen Frauen aussprach, als ihr Zögling auch jetzt noch seinen Widerstand fortsetzte.
»Pavel!« kreischte das Kind, »Pavel, reiß mich los! ... Gehen wir fort, weit weg... gehen wir zusammen in die Arbeit, in den Ziegelschlag wie früher, wie damals, wo wir klein waren... ich will achtgeben auf dich, daß du kein Dieb mehr bist... Reiß mich los! ... Nimm mich mit... Geh nicht allein... ich seh dich nie mehr, wenn du allein weggehst... Sie lassen dich nie mehr zu mir... Nie mehr!«
Ihr Schreien endete in nicht unterscheidbaren Lauten, in einem heiseren Husten. Pavel stöhnte; der Hilferuf der Kleinen schnitt ihm ins Herz, und doch blieb er unbefangen genug, um zu denken: Was sie verlangt, ist unmöglich, was sie sich zutraut, geht weit über ihre Kräfte. Sie schwieg endlich – gewiß vor Erschöpfung. Pavel konnte sie nicht sehen – drei- und vierfach waren allmählich die Reihen geworden, welche die Klosterfrauen zwischen ihr und ihm bildeten.
1 comment