Das Glück der Familie Rougon - 1

Émile Zola

Das Glück der Familie Rougon

Roman

Band 1 - der Rougon Macquart.
(La fortune des Rougon - 1871)
Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem
Zweiten Kaiserreich

 

 

 

TUX - ebook 2010

 

 

Vorwort

Ich möchte erläutern, wie sich eine Familie, eine kleine Gruppe von Wesen, in einer Gesellschaft verhält, indem sie sich entfaltet, um zehn, zwanzig Einzelwesen hervorzubringen, die auf den ersten Blick grundverschieden erscheinen, die aber, wie die Analyse zeigt, innig miteinander verbunden sind. Die Vererbung hat ihre Gesetze, wie die Schwerkraft.

Ich werde versuchen, durch Lösung der zwiefachen Frage des Temperaments und der Umwelt den Faden zu finden und zu verfolgen, der mit mathematischer Genauigkeit von einem Menschen zum anderen führt. Und wenn ich alle Fäden habe, wenn ich eine ganze soziale Gruppe in Händen halte, werde ich zeigen, wie diese Gruppe als Handlungsträger einer geschichtlichen Epoche am Werk ist und wie sich diese von mir zu schaffende Gruppe in der Vielschichtigkeit ihrer Bemühungen betätigt, ich werde das ganze Wollen jedes einzelnen ihrer Mitglieder und den ihnen allen gemeinsamen Drang analysieren.

Für die RougonMacquart, die Gruppe, die Familie, die zu untersuchen ich mir vornehme, ist charakteristisch die Zügellosigkeit der Begierde, das weite Aufbegehren unseres Zeitalters, das sich auf die Genüsse stürzt. Physiologisch gesehen, zeigen die RougonMacquart das langsame Vererben von Nerven und Blutsübeln, die in einem Geschlecht als Folge eines ersten organischen Schadens zutage treten und die je nach der Umwelt bei jedem der Einzelwesen dieses Geschlechts die Gefühle, die Wünsche, die Leidenschaften, alle natürlichen und instinktiven menschlichen Äußerungen bestimmen, deren Ergebnisse die überkommenen Bezeichnungen Tugend und Laster annehmen. Historisch gesehen, gehen die RougonMacquart aus dem Volk hervor, sie strahlen in die ganze zeitgenössische Gesellschaft aus, sie steigen zu allen Stellungen auf, vermöge jenes im wesentlichen neuzeitlichen Impulses, den die unteren Klassen auf dem Wege durch den sozialen Körper empfangen, und die RougonMacquart erzählen so mit ihren persönlichen Dramen die Geschichte des Zweiten Kaiserreichs, von der Hinterhältigkeit des Staatsstreichs bis zum Verrat von Sedan.

Drei Jahre lang habe ich die Dokumente zu diesem großen Werk gesammelt, und der vorliegende Band war sogar schon geschrieben, als der Sturz der Bonapartes, dessen ich als Künstler bedurfte und der für mich stets schicksalhaft notwendig am Schluß des Dramas stand, ohne daß ich zu hoffen gewagt hätte, er stehe schon so nahe bevor, mir die furchtbare und unausweichliche Lösung meines Werkes brachte. Dieses Werk ist nunmehr fertig; es bewegt sich in einem geschlossenen Kreis; es wird das Bild eines abgestorbenen Regimes, einer seltsamen Epoche des Wahnsinns und der Schande sein.

Dieses Werk, das mehrere Episoden umfassen wird, ist also in meinem Denken die Natur und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich. Und die erste Episode, Das Glück der Familie Rougon, müßte mit ihrem wissenschaftlichen Titel Die Ursprünge heißen.

Paris, am 1. Juli 1871

Émile Zola

 

Das Glück der Familie Rougon

Kapitel I

Verläßt man Plassans durch die im Süden der Stadt gelegene Porte de Rome, so findet man rechts von der Straße nach Nizza, hinter den ersten Häusern der Vorstadt, ein verwahrlostes Stück Land, das in der Gegend als SaintMittreHof bekannt ist.

Der SaintMittreHof bildet ein langgezogenes Viereck von beträchtlicher Größe, das sich in gleicher Höhe mit dem Fußsteig längs des Weges hinzieht, von dem es lediglich ein zertretener Grasstreifen trennt. Auf der einen Seite, von rechts, wird es von der baufälligen Häuserreihe eines Sackgäßchens begrenzt. Links und hinten ist es durch moosbewachsenes Gemäuer abgeschlossen, über dem man die Zweige der hohen Maulbeerbäume des JasMeiffren gewahrt, eines großen Anwesens, das seinen Zugang weiter unten in der Vorstadt hat. So von drei Seiten eingeschlossen, gleicht der SaintMittreHof einem Platz, der nirgends hinführt und nur von Spaziergängern betreten wird.

Hier war früher ein Friedhof, dem Schutzpatron SaintMittre geweiht, einem provenzalischen Heiligen, der in dieser Gegend große Verehrung genoß. 1851 erinnerten sich die alten Leute in Plassans noch an die Mauern dieses Friedhofs, der jahrelang verschlossen geblieben war. Das Erdreich, seit mehr als hundert Jahren mit Leichen vollgestopft, schwitzte den Tod aus, und man hatte am anderen Ende der Stadt eine neue Begräbnisstätte anlegen müssen. Verlassen wie er war, reinigte sich der alte Friedhof in jedem Frühjahr von selbst, indem er sich mit einer dunklen und dichten Pflanzendecke bezog. Dieser fette Boden, in den die Totengräber keinen Spatenstich mehr tun konnten, ohne einen Fetzen von einer Leiche aufzuwerfen, war von unheimlicher Fruchtbarkeit. Von der Straße aus sah man nach den Mairegen und der darauffolgenden Junihitze die Spitzen der Gräser über die Mauern ragen. Innen aber wogte ein tief grünes, unergründliches Meer, betupft mit großen Blüten von seltsamem Glanz. Darunter, im Schatten der enggedrängten Stengel, ahnte man das feuchte, von gärenden Säften durchtränkte Erdreich.

Eine der Merkwürdigkeiten dieses Grundstücks waren damals Birnbäume mit verdrehten Ästen und ungeheuren Knorren. Keine Hausfrau von Plassans hätte die riesigen Birnen ernten mögen, in der ganzen Stadt verzog man vor Ekel das Gesicht, wenn man von diesen Früchten sprach. Aber die Vorstadtjungen waren nicht so wählerisch; sie kletterten abends in der Dämmerung in Scharen über das Gemäuer und stahlen die Birnen, sogar ehe sie reif waren.

Bald hatte das üppige Leben der Gräser und Bäume alle Leichen in dem ehemaligen SaintMittre Friedhof aufgezehrt, gierig wurde alles, was vom Menschen verwest, von den Blumen und Früchten aufgesogen, und so kam es, daß man schließlich nur noch den durchdringenden Duft der wilden Levkojen verspürte, wenn man an dieser Faulgrube vorüberging.