Hier und dort stahl sich ein Mondenstrahl hinunter und legte über das Wasser eine Straße von geschmolzenem Zinn, die leuchtete und zitterte wie der Widerschein des Tageslichts auf den Schuppen eines lebenden Tieres. Mit geheimnisvollem Zauber liefen diese Lichter zwischen dem verschwommenen, schemenhaften Laubwerk den grauschimmernden Lauf des Flusses entlang. Das Tal war wie verzaubert, wie ein wundersamer Schlupfwinkel, wo ein ganzes Volk von Schatten und Lichtern ein seltsames Leben führte.
Die beiden Liebenden kannten diesen Teil des Flusses sehr genau. Oft waren sie in heißen Julinächten hier hinuntergestiegen, um Kühlung zu suchen. Sie hatten lange Stunden verborgen unter den Weidenbüschen des rechten Ufers zugebracht, dort, wo die SainteClaireWiesen ihren Grasteppich bis an den Fluß hin aufrollen. Sie erinnerten sich an die geringsten Uferwindungen, an die einzelnen Steine, auf die man springen mußte, wollte man die Viorne überqueren, die zu jener Jahreszeit dünn wie ein Faden ist, und an gewisse Grasmulden, in denen sie ihre zärtlich verliebten Träume geträumt hatten. Deshalb schaute Miette mit Sehnsucht von der Brücke hinab nach dem rechten Flußufer hinüber.
»Wenn es wärmer wäre«, seufzte sie, »könnten wir hinuntersteigen und uns ein wenig ausruhen, bevor wir den Abhang wieder hinaufgehen …« Nach einem kurzen Schweigen, die Augen immer noch auf die Ufer der Viorne geheftet, sprach sie weiter: »Sieh doch, Silvère, diese schwarze Masse da unten, vor der Schleuse … Erinnerst du dich? – Das ist das Gebüsch, in dem wir am letzten Fronleichnamsfest gesessen haben.«
»Ja, das ist das Gebüsch«, antwortete Silvère leise.
Hier hatten sie zum erstenmal gewagt, einander auf die Wangen zu küssen. Diese Erinnerung, die das Mädchen soeben heraufbeschworen hatte, weckte in ihnen beiden eine köstliche Empfindung, eine Erregung, in der sich die Freuden von gestern mit den Hoffnungen auf morgen mischten. Wie im Schein eines Blitzes tauchten vor ihnen die schönen, gemeinsam verbrachten Abende auf, besonders jener Fronleichnamsabend, den sie sich bis in alle Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen vermochten: der weite, sanfte Himmel, die Kühle unter den Weiden an der Viorne, die zärtlichen Worte ihres Geplauders. Und während Vergangenes mit süßer Lieblichkeit in ihren Herzen heraufstieg, glaubten sie schon die unbekannte Zukunft zu schauen; sie sahen sich Arm in Arm, ihr Traum hatte sich erfüllt, und sie schritten genauso durch das Leben, wie sie eben über die Landstraße gewandert waren, warm umfangen von einem einzigen Mantel. Darüber erfüllte die Verzückung sie von neuem, Auge in Auge lächelten sie einander zu, ganz versunken im schweigenden Mondlicht.
Plötzlich richtete sich Silvère auf. Er befreite sich aus den Falten des Mantels und horchte. Überrascht tat Miette desgleichen, ohne zu begreifen, warum er sich mit solch heftiger Bewegung von ihr gelöst hatte.
Seit kurzer Zeit drangen verworrene Laute hinter den Hügeln hervor, zwischen denen sich die Straße nach Nizza verliert. Es war wie das ferne Rumpeln eines Karrenzuges. Im übrigen übertönte das Brausen der Viorne diese noch undeutlichen Geräusche. Doch nach und nach hoben sie sich klarer hervor und ähnelten dem Marschtritt einer Armee. Dann konnte man in diesem ständigen, immer stärker anschwellenden Rollen das Getöse von Menschenstimmen unterscheiden, merkwürdig taktmäßige, rhythmische Windstöße eines Orkans; man hätte es für das Grollen eines schnell heraufziehenden Gewitters halten können, das schon bei seinem Nahen die schläfrige Luft in Aufruhr versetzt. Silvère lauschte, konnte aber diese Sturmstimmen, die von den Hügeln daran gehindert wurden, klar bis zu ihm zu dringen, nicht verstehen. Plötzlich tauchte an der Straßenkrümmung eine schwarze Masse auf und, mit der Wut der Rache gesungen, erschallte furchtbar die Marseillaise4.
»Das sind sie!« rief Silvère in einem Ausbruch von Freude und Begeisterung.
Er begann den Abhang hinaufzulaufen und zog Miette mit sich. Links von der Straße lag eine mit Steineichen bepflanzte Böschung, die er und das Mädchen erkletterten, damit sie nicht alle beide vom Strom der brüllenden Menge fortgerissen würden.
Oben auf der Böschung im Schatten des Gestrüpps angelangt, betrachtete das Mädchen, ein wenig bleich geworden, traurig diese Männer, deren Gesang von weitem schon genügt hatte, Silvère aus ihren Armen zu reißen. Es war ihr, als habe sich diese ganze Schar zwischen sie und ihn gedrängt. Noch vor wenigen Minuten waren sie so glücklich gewesen, so eng verbunden, so allein, so verloren in der großen Stille und dem verschwiegenen Mondlicht! Und nun hatte Silvère den Kopf abgewandt, schien nicht einmal mehr zu wissen, daß sie da war, und hatte nur noch Augen für diese Unbekannten, die er Brüder nannte.
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