Aber sie hielten nicht an, sondern wanderten weiter talwärts und taten, als sähen sie den Pfad gar nicht, über den sie hatten nicht hinausgehen wollen. Erst einige Minuten später flüsterte Silvère:

»Es muß schon recht spät sein, du wirst müde werden.«

»Nein, ich versichere dir, ich bin gar nicht müde«, antwortete das junge Mädchen. »Ich könnte gut noch viele Meilen so weitergehen.« Dann fügte sie mit schmeichelnder Stimme hinzu: »Wie wär˜s, wenn wir noch zu den SainteClaireWiesen hinuntergingen? – Dort machen wir dann wirklich Schluß und kehren um.«

Silvère, den der rhythmische Gang des Mädchens einwiegte und der mit offenen Augen wie in sanftem Halbschlaf dahinschritt, widersprach nicht. So glitten sie wieder in ihren verzückten Zustand zurück. Aus Angst vor dem Augenblick, in dem sie den Hang wieder hinansteigen mußten, verlangsamten sie ihre Schritte. Solange sie vorwärts gingen, meinten sie, für ewig in dieser Umarmung zu wandern, die sie eng miteinander verband. Der Rückweg bedeutete Trennung, den grausamen Abschied.

Allmählich nahm das Gefälle der Straße ab. Im Talgrund ziehen sich Wiesen bis zur Viorne hin, die an der anderen Talseite am Fuß niedriger Hügel entlangfließt. Diese Wiesen, durch lebende Hecken von der Landstraße getrennt, sind die SainteClaireWiesen.

»Ach was!« rief nun seinerseits Silvère, als er die ersten Grasflächen erblickte. »Wir gehen noch bis zur Brücke.«

Miette lachte jubelnd auf, faßte den jungen Burschen um den Hals und küßte ihn schallend.

Da, wo die Hecken anfangen, endete damals die lange Allee mit zwei Ulmen, zwei noch mächtigeren Riesen, als es die andern waren. Die Wiesen erstreckten sich in gleicher Höhe mit der Straße völlig baumlos wie ein breiter Streifen grünen Wollstoffs bis zu den Weiden und Birken am Fluß. Von den letzten Ulmen bis zur Brücke waren es übrigens kaum dreihundert Meter. Die Liebenden brauchten eine gute Viertelstunde, um diese Entfernung zurückzulegen. Schließlich waren sie trotz allen Zauderns auf der Brücke angelangt. Sie blieben stehen.

Vor ihnen kletterte die Straße nach Nizza den gegenüberliegenden Talhang empor, aber sie konnten nur ein ziemlich kurzes Stück davon übersehen, denn sie macht einen halben Kilometer hinter der Brücke einen scharfen Knick und verliert sich dann zwischen bewaldeten Hügeln. Als sie sich umwandten, erblickten sie das andere, soeben von ihnen durchmessene Stück der Straße, das in gerader Linie von Plassans zur Viorne führt. Bei dem herrlichen winterlichen Mondschein glich es einem langen Silberband, das die Ulmenreihen mit zwei dunklen Borten einfaßten. Rechts und links bildeten die gepflügten Felder des Hanges zwei große, graue, verschwimmende Meere, durchschnitten von diesem Band, dieser weißen, hartgefrorenen, metallisch glänzenden Straße. Ganz oben, am Horizont, blitzten wie tanzende Funken einige noch hell erleuchtete Fenster der Vorstadt. Schritt für Schritt hatten sich Miette und Silvère eine gute Meile von dort entfernt. Sie warfen einen Blick auf den Weg, den sie hinter sich gebracht hatten, und standen in stummer Bewunderung vor diesem unermeßlichen Amphitheater, das bis zum Himmelsrand hinanstieg und über das sich wie über die Stufen eines Riesenwasserfalls Streifen von bläulichem Licht ergossen. Diese seltsame Pracht, diese ungeheure Apotheose stand da in der Unbeweglichkeit und dem Schweigen des Todes. Nichts kam ihr an überwältigender Größe gleich.

Dann schauten die jungen Leute, die sich an das Brückengeländer gelehnt hatten, hinab. Unter ihnen floß mit dumpfem, ununterbrochenem Brausen die Viorne, die von Regengüssen angeschwollen war. Flußauf und flußab gewahrten sie inmitten der in der Tiefe gehäuften Schatten die schwarzen Reihen der Bäume, die an den Ufern wuchsen.