Sie fühlte sich von der Straße da unten angezogen wie von den Tiefen eines Abgrunds. Um nicht auf der Böschung ins Rutschen zu kommen, hielt sie sich am Halse des jungen Burschen fest. Ein eigenartiger Rausch stieg aus der von Lärm, Mut und Glauben trunkenen Menge empor. All diese im Mondlicht nur flüchtig erblickten Gestalten, diese Jünglinge, diese reifen Männer, diese Greise, die alle seltsame Waffen schwangen und die verschiedenartigsten Gewänder trugen, vom Kittel des Tagelöhners bis zum Überrock des Bürgers, diese unendliche Folge von Köpfen, aus denen Zeit und Umstände unvergeßliche Masken der Energie und der fanatischen Verzückung machten – all das wurde schließlich in den Augen des jungen Mädchens zu dem schwindelerregenden Ungestüm eines reißenden Stroms. Manchmal wollte es ihr scheinen, als marschierten sie nicht mehr, als würden sie davongetragen von der Marseillaise selbst, diesem rauhen, ungeheuerlich dröhnenden Gesang. Es war ihr nicht möglich, die Worte zu verstehen, sie hörte nur ein ununterbrochenes Grollen, das von dumpfen zu durchdringenden Klängen überging, spitz wie Stachel, die man ihr mit heftigen Stößen ins Fleisch trieb. Dieses Brüllen der Empörung, dieser Aufruf zu Kampf und Tod, mit seinen ruckweisen Zornausbrüchen, seinem brennenden Verlangen nach Freiheit, seinem erstaunlichen Gemisch aus Blutrausch und erhabener Begeisterung, traf sie mitten ins Herz, unaufhörlich und bei jeder Gewaltsamkeit des Rhythmus tiefer, und ließ sie die wollüstige Angst einer jungfräulichen Märtyrerin empfinden, die sich unter Peitschenhieben lächelnd aufrichtet. Und immer noch strömte, getragen von der Flut der Klänge, die Menschenmasse dahin. Der Vorbeimarsch, der kaum einige Minuten dauerte, schien den jungen Leuten kein Ende zu nehmen.
Gewiß, Miette war noch ein Kind. Sie war erblaßt beim Nahen des Zuges, sie hatte ihren zerronnenen Zärtlichkeitstraum beweint; aber sie war ein mutiges Kind, eine heißblütige Natur, die leicht in Begeisterung aufflammte. So kam es, daß die Erregung, die sich Miettes nach und nach bemächtigt hatte, sie jetzt zutiefst erschütterte. Sie wurde zum Jungen. Gern hätte sie eine Waffe genommen und wäre den Aufständischen gefolgt. Beim Vorüberziehen der Gewehre und der Sensen schienen ihre weißen Zähne zwischen den roten Lippen länger und spitzer zu werden, ähnlich den Reißzähnen eines jungen Wolfes, der Lust zum Beißen verspürt. Und während sie hörte, wie Silvère mit immer hastigerer Stimme die Abteilungen der Landbevölkerung aufzählte, war es ihr, als nähme bei jedem Wort des Burschen der Schwung der Kolonne noch zu. Bald wurde alles zu einem einzigen Aufbrausen, einer Staubwolke von Menschen, die ein Sturm vor sich herjagte. Alles begann sich vor Miette zu drehen. Sie schloß die Augen. Schwere, heiße Tränen flossen ihr über die Wangen.
Auch Silvère hingen Tränen in den Wimpern.
»Ich sehe die Leute nicht, die heute nachmittag Plassans verlassen haben«, flüsterte er. Er versuchte, das Ende der Kolonne zu erkennen, das noch im Schatten verborgen war. Plötzlich rief er freudestrahlend: »Ah, da sind sie! – Sie haben die Fahne, man hat ihnen die Fahne anvertraut!«
Dann wollte er von der Böschung herunterspringen, um seine Gefährten einzuholen, aber im selben Augenblick machten die Aufständischen halt. Befehle liefen die Kolonne entlang. Die Marseillaise erstarb in einem letzten Grollen, man hörte nur das wirre Gemurmel der noch ganz ergriffenen Menge. Silvère lauschte und konnte so die Befehle auffangen, die von Abteilung zu Abteilung weitergegeben wurden und die Männer von Plassans an die Spitze des Zuges beriefen. Als sich die einzelnen Bataillone am Rand der Straße aufstellten, um die Fahne vorbeizulassen, zog der junge Bursche Miette wieder mit sich auf die Böschung.
»Komm«, sagte er, »wir werden vor ihnen jenseits der Brücke sein!«
Und als sie oben angelangt waren, inmitten der Äcker, liefen sie bis zur Mühle, deren Wehr den Fluß staut. Hier überquerten sie die Viorne auf einer Planke, die die Müller über das Flüßchen gelegt hatten.
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