Manchmal setzt sich auch ein Dutzend Kinder eng aneinandergedrängt auf das dünne Ende eines Stammes, das einige Fuß über dem Boden schwebt, und schaukelt sich stundenlang auf und nieder. So ist der Saint MittreHof nach und nach zu einem Spielplatz geworden, auf dem seit einem Vierteljahrhundert die Hosenböden sämtlicher Vorstadtjungen durchgescheuert werden.
Ein vollends seltsames Gepräge haben diesem verlorenen Winkel die umherziehenden Zigeuner gegeben, die nach altem Brauch hier ihre Wohnstätte aufschlagen. Sobald eines dieser fahrbaren Häuser, die stets eine ganze Sippe beherbergen, nach Plassans kommt, macht es ganz hinten im SaintMittreHof halt. Daher ist der Platz niemals verwaist; immer haust dort irgendeine sonderbare Bande, eine Rotte wild aussehender Männer und entsetzlich dürrer Weiber, und zwischen ihnen sieht man ganze Scharen schöner Kinder sich auf dem Boden wälzen. Dieses Völkchen lebt ohne Scheu vor aller Augen unter Gottes freiem Himmel, kocht sein Mahl im eisernen Kessel, nährt sich von Dingen, die man nicht bezeichnen kann, breitet seine durchlöcherten Lumpen aus, schläft, prügelt und küßt einander und stinkt vor Schmutz und Elend.
So ist aus der öden und leblosen Stätte, wo einst nur die Hummeln in der drückenden Stille der Sonnenglut um die fetten Blumen summten, ein geräuschvoller Ort geworden, erfüllt vom Gezänk der Zigeuner und dem schrillen Geschrei der jungen Taugenichtse aus der Vorstadt. Ein Sägewerk, das in einer Ecke die Stämme für den Zimmerplatz zurichtet, dient mit seinem grellen Knirschen den Stimmen als ständige Baßbegleitung. Dieses Sägewerk ist ganz primitiv: das zu schneidende Stück Holz wird über zwei hohe Böcke gelegt, und zwei Brettschneider, von denen der eine oben auf dem Stamm steht, der andere unten, am Sehen gehindert durch das herabfallende Sägemehl, zwingen ein breites, starkes Sägeblatt zu einer ständigen Hinundherbewegung. Stundenlang beugen sich die beiden Männer mit automatischer Regelmäßigkeit und Unempfindlichkeit auf und nieder, wie zwei Marionetten. Das zugerichtete Holz wird an der hinteren Mauer in Stapeln von zwei bis drei Meter Höhe Brett für Brett sauber und ordentlich zu tadellosen Würfeln aufgeschichtet. Diese Art viereckige Meiler, die dort oft mehrere Jahre liegenbleiben und am Boden vom Gras angenagt werden, zählen zu den Reizen des SaintMittreHofes. Sie schaffen geheimnisvolle schmale und verschwiegene Pfade, die zu einem breiteren Weg zwischen den Holzstößen und der Mauer führen. Hier ist eine Wildnis, ein Streifen Grün, von dem aus man nur hier und da ein Stückchen Himmel sieht. In diesem Gang an der mit Moos bewachsenen Mauer, dessen Boden von einem dicken und dichten Wollteppich bedeckt zu sein scheint, herrschen noch der üppige Pflanzenwuchs und die schaudererregende Stille des einstigen Friedhofs. Man spürt hier das Wehen des heißen, kaum merklichen Hauchs wollüstiger Verwesung, der aus den von der Sonnenglut durchwärmten alten Gräbern steigt. In der ganzen Umgebung von Plassans gibt es keinen Ort, der mehr von innerem Leben aufgewühlt wäre, mehr durchzittert von Wärme, Einsamkeit und Liebe; und dort ist es köstlich zu lieben. Als der Friedhof geräumt wurde, hatte man wohl die Gebeine gerade in diesem Winkel aufgestapelt, denn noch heute stößt man mit dem Fuß, im feuchten Grase wühlend, nicht selten auf Schädelreste.
Doch niemand denkt mehr an die Toten, die unter diesem Gras geschlafen haben. Tagsüber kommen nur die Kinder beim Versteckenspielen hinter diese Holzstapel. Der grüne Gang bleibt unberührt und unbeachtet. Man sieht nichts als den Holzplatz, angefüllt mit Stämmen und grau von Staub. Morgens und nachmittags, wenn die Sonne milde scheint, wimmelt das ganze Grundstück von Leben, und über all diesem lebhaften Treiben, über der Straßenjugend, die zwischen den Holzhaufen spielt, und den Zigeunern, die das Feuer unter ihrem Kessel schüren, zeichnet sich gegen den Himmel die magere Silhouette des oben auf seinem Stamm stehenden Brettschneiders ab, wie sie mit der Regelmäßigkeit eines Pendels auf und ab schwingt, als wolle sie das Zeitmaß sein für das glühende neue Leben, das an dieser einst der ewigen Ruhe bestimmten Stätte aufgeblüht ist. Nur die Alten, die auf den Stämmen sitzen und sich in der Abendsonne wärmen, reden noch manchmal von den Gebeinen, die sie einstmals auf dem sagenhaften Karren durch die Gassen von Plassans abfahren sahen.
Bei sinkender Nacht leert sich der SaintMittre Hof, scheint hohl zu werden, ein großes, schwarzes Loch. Nur ganz hinten sieht man noch den verglimmenden Schein des Zigeunerfeuers. Dann und wann verschwinden Schatten lautlos im Dickicht der Dunkelheit. Im Winter vor allem wird der Ort unheimlich.
Eines Sonntagabends gegen sieben Uhr schlich ein junger Bursche aus der SaintMittreSackgasse und schlüpfte, dicht an der Mauer entlanggehend, zwischen die Stämme des Holzplatzes. Es war in den ersten Dezembertagen 1851.
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