»Kleine«, sagte er oft, wobei er Félicité die Wangen tätschelte, »ich setze dich zu meiner Erbin ein, falls Heinrich V. mir jemals zu einem Vermögen verhilft.«
Félicité zählte fünfzig Jahre, und er nannte sie immer noch »Kleine«. An dieses vertrauliche Tätscheln und an die wiederholten Erbschaftsversprechungen dachte Frau Rougon, als sie ihren Mann in die Politik trieb. Oft schon hatte Herr de Carnavant bitter geklagt, daß er ihr nicht helfen könne. Zweifellos würde er sich ihrer väterlich annehmen, sobald er zu Geld käme. Pierre, dem seine Frau die Lage mit halben Worten auseinandersetzte, erklärte sich bereit, die Richtung einzuschlagen, die man ihm weisen würde.
Die besondere Stellung des Marquis machte aus ihm in Plassans bereits in den ersten Tagen der Republik den tätigen Förderer der reaktionären Bewegung. Dieser rührige kleine Mann, der bei der Rückkehr seines angestammten Königshauses alles zu gewinnen hatte, stellte sich mit Feuereifer in den Dienst ihrer Sache. Während sich der reiche Adel des SaintMarc Viertels in seiner stummen Verzweiflung vergrub, aus Angst vielleicht, sich bloßzustellen und sich von neuem zum Exil verdammt zu sehen, vervielfältigte sich der Marquis, machte Propaganda und warb Anhänger. Er war eine Waffe, deren Griff eine unsichtbare Hand gefaßt hielt. Seit dieser Zeit verkehrte er täglich bei den Rougons. Er brauchte ein Operationszentrum. Da ihm sein Verwandter, Herr de Valqueyras, verboten hatte, politische Freunde in sein Haus zu bringen, hatte er Félicités gelben Salon dazu gewählt. Überdies fand er bald in Pierre einen wertvollen Helfer. Er selbst konnte den kleinen Kaufleuten und den Arbeitern der Altstadt die Sache der Legitimisten nicht predigen; man würde ihn ausgepfiffen haben. Pierre hingegen, der inmitten dieser Leute gelebt hatte, sprach ihre Sprache, kannte ihre Nöte, konnte ihnen in aller Milde die Leviten lesen. So wurde er ein unentbehrlicher Mann. In weniger als vierzehn Tagen waren die Rougons royalistischer als der König. Als der Marquis Pierres Eifer sah, versteckte er sich schlauerweise hinter ihm. Wozu sich ins Licht der Öffentlichkeit stellen, wenn ein Mann mit breiten Schultern gewillt ist, alle Torheiten einer Partei auf sich zu nehmen? Er ließ also Pierre den Vorrang, ließ ihn sich aufblasen vor Wichtigkeit, sich als Herrn gebärden, während er selber sich damit begnügte, ihn, je nachdem die Sache es forderte, zurückzuhalten oder anzutreiben. So wurde der ehemalige Ölhändler bald zu einer bekannten Persönlichkeit. Abends, wenn sie wieder allein miteinander waren, sagte Félicité zu ihm: »Mach nur so weiter und fürchte nichts. Wir sind auf dem rechten Weg. Wenn es so weitergeht, werden wir eines Tages reich sein, werden einen Salon haben wie der Steuerdirektor und Gesellschaften geben.«
Es hatte sich mit der Zeit bei den Rougons ein Kern von Konservativen gebildet, die jeden Abend im gelben Salon zusammenkamen, um auf die Republik zu schimpfen.
Da waren unter anderen drei oder vier Kaufleute, die sich vom Geschäft zurückgezogen hatten und nun um ihre Zinsen bangten, weshalb sie aus vollem Halse nach einer einsichtigen und starken Regierung schrien. Als Haupt dieser Gruppe galt Herr Isidore Granoux, Mitglied des Magistrats und ehemaliger Mandelhändler. Mit seiner Hasenscharte, die unter der Nase einen Spalt von fünf oder sechs Zentimetern bildete, seinen runden Augen, dem zufriedenen und zugleich verdutzten Gesichtsausdruck erinnerte er an einen fetten Ganter, der in der heilsamen Furcht vor dem Koch seiner Verdauung lebt. Er sprach wenig, weil ihm die richtigen Worte nicht einfielen; er hörte lediglich zu, wenn man die Republikaner beschuldigte, sie wollten die Häuser der Reichen ausplündern, wobei er sich damit begnügte, so rot zu werden, daß man einen Schlaganfall für ihn befürchtete, und halb unterdrückte Schmähungen zu murmeln, unter denen die Wörter »Faulenzer, Schufte, Diebe, Mörder« immerzu wiederkehrten.
Allerdings waren nicht alle Stammgäste des gelben Salons von der Schwerfälligkeit dieses fetten Ganters. Herr Roudier, ein reicher Hausbesitzer mit einem fleischigen, einnehmenden Gesicht, redete dort stundenlang mit der Leidenschaft eines Orléanisten, dessen Berechnungen durch den Sturz LouisPhilippes35 über den Haufen geworfen worden waren.
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