Indessen hatte die Stadt bei der Verkündung der Pariser Ereignisse nur eine ganz leichte Erregung gezeigt. Man war in Gruppen vor den Bekanntmachungen, die am Tor der Unterpräfektur angeschlagen waren, stehengeblieben; außerdem verbreitete sich das Gerücht, ein paar hundert Arbeiter hätten ihre Arbeit im Stich gelassen und versuchten Widerstand zu organisieren. Das war alles. Es schienen keine ernsthaften Unruhen auszubrechen. Die Haltung der benachbarten Städte und Dörfer war sehr viel besorgniserregender, aber man wußte noch nicht, wie der Staatsstreich dort aufgenommen worden war.
Gegen neun Uhr erschien Granoux, ganz außer Atem; er kam aus einer dringlich einberufenen Sitzung des Stadtrats. Mit vor Erregung erstickter Stimme teilte er mit, daß sich der Bürgermeister, Herr Garçonnet, wenn auch mit gewissen Vorbehalten, entschlossen gezeigt habe, die Ordnung mit den wirksamsten Mitteln aufrechtzuerhalten. Doch die Nachricht, die das größte Geschrei im gelben Salon hervorrief, war die vom Rücktritt des Unterpräfekten. Dieser Beamte hatte sich rundweg geweigert, den Einwohnern von Plassans die Depeschen des Innenministeriums mitzuteilen; er habe soeben, versicherte Granoux, die Stadt verlassen, und der Bürgermeister habe dafür gesorgt, daß die Depeschen angeschlagen wurden. Dies ist vielleicht der einzige Unterpräfekt in ganz Frankreich, der den Mut besessen hat, für seine demokratische Überzeugung einzustehen.
Wenn die feste Haltung des Herrn Garçonnet die Rougons heimlich beunruhigte, machten sie sich desto mehr über die Flucht des Unterpräfekten lustig, der ihnen den Platz räumte. An diesem denkwürdigen Abend wurde beschlossen, daß der Kreis des gelben Salons den Staatsstreich anerkenne und sich offen mit den vollendeten Tatsachen einverstanden erkläre. Vuillet wurde beauftragt, unverzüglich einen Artikel in diesem Sinne zu schreiben, den die »Gazette« am folgenden Tag bringen sollte. Er und der Marquis erhoben keinerlei Einwendungen. Ohne Zweifel hatten sie diesbezügliche Weisungen von den geheimnisvollen Persönlichkeiten erhalten, auf die sie manchmal ehrfurchtsvoll anspielten. Der Klerus und der Adel hatten sich schon darein ergeben, den Siegern Beistand zu leisten, um den gemeinsamen Feind, die Republik, zu zerschmettern.
Während man an diesem Abend im gelben Salon beratschlagte, brach Aristide der kalte Schweiß aus. Kein Spieler, der sein letztes Goldstück auf eine Karte setzt, hat je eine solche Angst ausgestanden. Der Rücktritt seines Vorgesetzten gab ihm den ganzen Tag über viel zu denken. Wiederholt hatte er ihn sagen hören, daß der Staatsstreich keinerlei Aussicht auf Erfolg habe. Dieser Beamte glaubte in seiner engstirnigen Ehrlichkeit an den Endsieg der Demokratie, ohne jedoch den Mut aufzubringen, durch Widerstand an diesem Sieg mitzuarbeiten. Aristide pflegte in der Unterpräfektur an den Türen zu horchen, um etwas Genaues zu erfahren; er fühlte, daß er im finstern tappte, und klammerte sich an die Nachrichten, die er in der Verwaltung erhaschte. Die Ansicht des Unterpräfekten überraschte ihn; aber er blieb ganz ratlos. Er dachte: Warum geht er denn, wenn er vom Mißerfolg des PrinzPräsidenten überzeugt ist? Da er jedoch gezwungen war, sich irgendwie zu entscheiden, beschloß er, weiter in der Opposition zu bleiben. Er schrieb einen sehr feindseligen Artikel gegen den Staatsstreich und trug ihn noch am selben Abend zum »Indépendant«, für die Nummer des nächsten Morgens. Er hatte die Korrekturfahnen des Artikels durchgesehen und ging dann, beinahe beruhigt, heimwärts, als er beim Überschreiten der Rue de la Banne unwillkürlich den Kopf hob und die Fenster der Rougons betrachtete. Sie waren hell erleuchtet.
Was können sie wohl dort oben aushecken? fragte sich der Journalist mit unruhiger Neugier.
Ein brennendes Verlangen packte ihn, die Meinungen des gelben Salons über die jüngsten Ereignisse zu erfahren. Er hielt recht wenig von den geistigen Fähigkeiten dieser reaktionären Gesellschaft, aber es stiegen wieder Zweifel in ihm auf; er war in einer Stimmung, in der man den Rat eines vierjährigen Kindes annehmen würde.
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