Félicité fiel es auf, daß er beim Herauskommen sehr aufgeregt war. Den ganzen Tag schlich sie um den Schreibtisch herum. Als endlich die Nacht kam, vermochte sie sich nicht länger zu gedulden. Kaum war ihr Mann eingeschlafen, als sie leise aufstand, den Schreibtischschlüssel aus der Westentasche zog und sich so geräuschlos wie möglich des Briefes bemächtigte. In zehn Zeilen verständigte Eugène seinen Vater davon, daß die Entscheidung unmittelbar bevorstehe, und riet ihm, seine Mutter von der Lage in Kenntnis zu setzen. Die Stunde, sie von allem zu unterrichten, sei gekommen; er, der Vater, könnte jetzt vielleicht ihres Rates bedürfen.
Am folgenden Morgen erwartete Félicité eine vertrauliche Mitteilung, die nicht erfolgte. Sie wagte ihr neugieriges Vorgreifen nicht einzugestehen und fuhr fort, die Ahnungslose zu spielen, innerlich wutentbrannt über das törichte Mißtrauen ihres Mannes, der sie ohne Zweifel für ebenso schwatzhaft und schwach wie alle die anderen Frauen hielt. Pierre, von jenem Dünkel der Ehemänner besessen, der dem Mann den Glauben an seine Überlegenheit in der ehelichen Gemeinschaft verleiht, hatte schließlich seiner Frau die Schuld an allem vorangegangenen Mißgeschick zugeschoben. Seit er sich einbildete, ganz allein die gemeinsamen Angelegenheiten zu ordnen, schien ihm alles nach Wunsch zu gehen. Deshalb hatte er beschlossen, gänzlich auf den Rat seiner Frau zu verzichten und ihr nichts anzuvertrauen, obwohl der Sohn es ihm anempfohlen hatte.
Félicité war so tief gekränkt, daß sie ihm am liebsten Steine in den Weg geworfen hätte, wäre ihr Wunsch nach Erfolg nicht ebenso brennend gewesen wie der Pierres. Sie arbeitete weiter eifrig auf das Gelingen ihrer Pläne hin, sann aber dabei auf irgendeine Rache.
Ach, würde er es doch einmal gründlich mit der Angst bekommen! dachte sie. Beginge er doch eine Riesendummheit! Dann würde er mich demütig um Rat bitten kommen, und ich würde ihm Vorschriften machen.
Vor allem beunruhigte sie die selbstherrliche Haltung, die Pierre unfehlbar annehmen würde, wenn er ohne ihre Hilfe triumphierte. Als sie dereinst diesen Bauernsohn geheiratet, ihm den Vorzug vor irgendeinem Notariatsschreiber gegeben hatte, war ihre Absicht gewesen, sich seiner zu bedienen wie eines robusten Hampelmannes, den sie am Schnürchen ziehen konnte, wie es ihr paßte. Und nun, am Tage der Entscheidung, wollte dieser Hampelmann in seiner blinden Schwerfälligkeit allein gehen! Die ganze Schlauheit, die ganze fieberhafte Geschäftigkeit dieser kleinen Alten empörte sich. Sie wußte Pierre durchaus eines brutalen Entschlusses fähig, ähnlich jenem, den er gefaßt hatte, als er seine Mutter die Quittung über fünfzigtausend Francs unterschreiben hieß; er war ein gutes Werkzeug ohne falsche Bedenken, aber sie fühlte die Notwendigkeit, ihn nach ihrem Willen zu lenken, namentlich unter den gegenwärtigen Umständen, die sehr viel Wendigkeit verlangten.
Die amtliche Nachricht vom Staatsstreich erreichte Plassans erst am Nachmittag des 3. Dezember, einem Donnerstag. Schon um sieben Uhr abends war die Gesellschaft vollzählig im gelben Salon versammelt. Obgleich man die Krise lebhaft herbeigesehnt hatte, malte sich doch auf fast allen Gesichtern eine unbestimmte Besorgnis. Man beredete die Ereignisse mit endlosem Geschwätz. Pierre, wie die übrigen etwas blaß geworden, glaubte in einem Übermaß von Vorsicht, die entscheidenden Handlungen des Prinzen Louis vor den anwesenden Legitimisten und Orléanisten entschuldigen zu müssen.
»Man spricht von einem Aufruf an das Volk«, sagte er. »Es wird dem Volk freistehen, die Regierung zu wählen, die ihm genehm ist … Der Präsident ist der Mann danach, vor unsern angestammten Herrschern zurückzutreten.«
Nur der Marquis, der die ganze Kaltblütigkeit des Edelmanns bewahrte, nahm diese Worte mit einem Lächeln auf. Die übrigen waren so erfüllt vom Fieber der gegenwärtigen Stunde, daß ihnen alles, was später geschehen würde, völlig gleichgültig war! Alle Einzelmeinungen verschwanden. Roudier vergaß seine zärtliche Liebe eines einstigen Hoflieferanten für die Orléans und unterbrach Pierre unbeherrscht. Alle schrien durcheinander: »Reden wir nicht lange! Denken wir daran, die Ordnung aufrechtzuerhalten!«
Die guten Leute hatten entsetzliche Angst vor den Republikanern.
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