71 - Der Weg zum Glück 06 - Das Gottesurteil

Karl May

Das Gottesurteil

Der Weg zum Glück 6

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der Text dieser Ausgabe folgt in sorgfältiger Überarbeitung
der Textgestalt des ehemaligen Verlags von H.G. Münchmeyer, Dresden,
die von Karl May selbst geschaffen wurde.

Die Orthographie wurde der heutigen Schreibweise angeglichen
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ERSTES KAPITEL

Der Nebenbuhler

Er stieg zwischen den Büschen langsam zur Kapelle hinauf. Es war vor derselben niemand zu sehen. Drinnen erscholl die Melodie eines Kirchenliedes.

Er trat ein, so heimlich wie möglich, damit man nicht allgemein bemerken solle, daß er so spät komme. Sein Erscheinen und dasjenige der Kronenbäuerin kurz vorher hätte zu Redereien oder wenigstens Vermutungen Veranlassung geben können. Er hatte sich so gestellt, daß er sie sehen konnte. Sie saß neben seiner Nichte und hatte derselben in so auffälliger Weise den Rücken zugekehrt, daß man überzeugt sein mußte, sie beabsichtige, das Mädchen zu beleidigen. Nach einiger Zeit erhob sich infolgedessen Martha und ging hinaus. Es war für sie kein übriger Platz vorhanden.

Der Förster drehte grimmig an den Spitzen seines Schnurrbarts. Er wußte, daß diese Beleidigung seiner Nichte eigentlich an ihn adressiert sei.

Aber wenn er den Blick auf die Bäuerin heftete, so wollte sein Grimm nicht Stich halten. Sie saß so schön, so entzückend da, die Augen fromm zum Buch niedergeschlagen. Und dann, als der Pfarrer zu sprechen begann, hob sie den Blick zu ihm empor. Sie sah so fromm, so mild und lieb aus wie ein Engel, dessen Seele und Gestalt nie ein Hauch getrübt hat und auch nicht trüben kann. Sie schien so ganz in der Andacht für die Predigt aufzugehen.

Dem Förster wurde es ganz wunderbar zumute. Dieser Engel, diese Heilige hatte an seinem Herzen gelegen. Er hatte die prächtigen Lippen küssen dürfen, welche jetzt halb offen, so daß die Perlenzähne dazwischen hervorschimmerten, den Inhalt der frommen Rede einzuatmen schienen. Dieses herrliche Wesen wollte auch fernerhin die Seinige sein, ihm für das ganze Leben angehörigen, nur solle er offen und rückhaltlos aufrichtig mit ihr sein. Hatte sie denn nicht ein Recht, dies von ihm zu fordern? Ganz gewiß, denn er verlangte ja auch von ihr die Wahrheit.

Er war von Haus aus nicht zur strengsten Gewissenhaftigkeit angelegt; er nahm sich vor, ihr den Willen zu tun. Was konnte es schaden, wenn er ihr sagte, welcher Plan gegen den Samiel ausgeführt werden solle. Sie würde es gewiß nicht ausplaudern. Was hätte sie davon gehabt?

So erwartete er mit Ungeduld das Ende des Gottesdienstes. Er wollte es so einrichten, daß er noch einmal mit der Kronenbäuerin zu sprechen kam. Darum war er der erste, welcher am Schluß die Kapelle verließ. Draußen stellte er sich an die Stelle, wo der Weg von dem Vorplatz des Gotteshäuschens nach dem Dorf abwärts führte. Auf diese Weise mußte sie an ihm vorüber.

Er war in der ganzen Umgebung nicht beliebt. Darum wurde er nur wenig gegrüßt. Niemand blieb bei ihm stehen, um etwa ein Gespräch zu beginnen, währenddessen die Bäuerin vielleicht Gelegenheit gesucht und gefunden hätte, an ihm vorüber zu kommen, ohne von ihm angehalten worden zu sein. So war er also sicher, daß sie ihm nicht entgehen konnte.

Die Bäuerin ihrerseits hatte mit guter Überlegung gehandelt. Sie wußte, daß er sie ablauern werde. Sie hegte auch keineswegs die Absicht, sich ihm vollständig zu entziehen.