Aber sie sah immer noch hin, weil das Gesicht auf dem Bild ihr erlaubte – so empfand sie es wenigstens –, das eben auf der Straße erblickte gründlicher zu verstehen. «Es ist derselbe Mann!», murmelte sie. «Da mag Jaffrey Pyncheon lächeln, wie er will, darunter ist dieser Blick! Setzt ihm bloß ein Käppchen auf und steckt ihn in einen schwarzen Talar mit Kragen, die Bibel in der einen und ein Schwert in der anderen Hand, dann kann Jaffrey lächeln, wie er will, und trotzdem würde niemand daran zweifeln, dass der alte Pyncheon wiedergekommen ist! Er hat ja bewiesen, dass er das Zeug dazu hat, ein neues Haus zu bauen! Und vielleicht auch, einen neuen Fluch heraufzubeschwören!»

So hing Hepzibah den verstörenden Fantasien aus der Vergangenheit nach. Sie hatte zu viel alleine gelebt – und zu lange im Haus der Ahnen –, bis dessen moderndes Holz auch ihr Hirn angriff. Sie müsste hinaus ans Mittagslicht, auf die Straße, um bei Verstand zu bleiben.

Die Magie der Gegensätze ließ ein zweites Porträt vor ihr erstehen, das seinem Original mit mehr Kühnheit schmeichelte, als es je ein Künstler gewagt hätte, und doch so zartfühlend gemalt war, dass die Ähnlichkeit vollkommen blieb. Das Vorbild war dasselbe, aber Malbones Miniatur konnte es keineswegs mit Hepzibahs ausgemaltem Bild aufnehmen, das aus Zuneigung und trauernder Erinnerung zugleich entstand. Sanftheit, milde und heitere Nachdenklichkeit, volle, rote Lippen, zu einem Lächeln bereit, das von den freundlich aufleuchtenden Augen schon angekündigt zu werden schien. Frauliche Züge, mit solchen des anderen Geschlechts untrennbar verwoben! Diese Besonderheit sah man auch auf der Miniatur, sodass man unwillkürlich an eine Ähnlichkeit mit der Mutter dachte und sie sich als liebreizende, liebenswerte Frau vorstellte, bezaubernd nachgiebig vielleicht, was es umso angenehmer machte, sie zu kennen, und umso leichter, sie zu lieben.

«Ja», dachte Hepzibah und ließ nur so viel von ihrem Kummer in ihre Augen fließen, wie noch erträglich war, «sie haben in ihm seine Mutter verfolgt! Er war nie ein Pyncheon!»

Doch jetzt schellte die Ladenglocke, wie ein Geräusch aus weiter Ferne, so tief war Hepzibah in die Grüfte ihrer Erinnerungen hinabgestiegen. Als sie den Laden betrat, traf sie dort auf einen alten Mann, einen bescheidenen Anwohner der Pyncheon Street, den sie schon seit vielen Jahren als eine Art Vertrauten des Hauses duldete. Er war ein Mensch ohne Alter, der immer schon graue Haare und Falten gehabt zu haben schien und einen einzigen, zudem beschädigten Zahn im Oberkiefer. Hepzibah war nicht mehr jung, aber sie konnte sich an keine Zeit erinnern, in der Onkel Venner, wie man ihn im Stadtviertel nannte, noch nicht leicht gebückt und mit schleppendem Schritt über Kies oder Pflastersteine die Straße hinauf- und hinuntergegangen wäre. Trotzdem war auch etwas Zähes und Starkes an ihm, das ihn nicht nur täglich am Leben hielt, sondern es ihm auch erlaubte, einen Platz einzunehmen, der sonst in der scheinbar so bevölkerten Welt leer geblieben wäre. Er machte Botengänge mit seinem langsamen, schlurfenden Schritt, dem man kaum zutraute, irgendwo anzukommen. Er sägte einen Klafter Brennholz für einen kleinen Haushalt, zerlegte ein altes Fass oder spaltete ein Tannenbrett für Kienspäne. Im Sommer grub er für die Hälfte ihres Ertrags die paar Meter Garten um, die zu einem bescheidenen Mietshäuschen gehörten, und im Winter schaufelte er den Schnee vom Gehsteig oder einen Pfad zum Holzschuppen oder zur Wäscheleine. Solche unverzichtbaren Dienste leistete Onkel Venner mindestens zwanzig Familien und war darum in diesem Kreis wohl ebenso angesehen und wohlgelitten wie ein Pfarrer bei seiner Gemeinde. Ein Schwein verlangte er zwar nicht als Zehnten, doch eine ähnliche Huldigung waren die Brosamen vom Tisch und die Reste des Mahls, die er auf seiner morgendlichen Runde für sein eigenes Ferkel einsammelte.5

In jüngeren Jahren – denn es gab doch eine verblasste Überlieferung, wonach er einst zwar nicht jung, aber doch jünger gewesen sein sollte – galt Onkel Venner als geistig eher beschränkt. Dieses Urteil hatte er ja auch tatsächlich dadurch so gut wie gebilligt, dass er kaum nach Erfolg strebte wie andere Leute, sondern nur den bescheidenen, unbedeutenden Platz im gesellschaftlichen Leben einnahm, der zu dieser angeblichen Geistesschwäche passt. Doch jetzt, als uralter Mann – ob durch lange und harte Erfahrung wirklich klüger geworden oder aus Selbstüberschätzung infolge nachlassender Urteilskraft – nahm der ehrwürdige Greis für sich in Anspruch, ziemlich weise zu sein, und man glaubte es ihm sogar. Auch besaß er manchmal eine fast poetische Ader; sie war das Moos, das Mauerblümchen in seinem bröckelnden Verstand und verzauberte, was in seinen frühen und mittleren Jahren vielleicht vulgär und gewöhnlich gewesen wäre. Hepzibah schätzte ihn, weil sein Name der einer alteingesessenen Familie und einst hochgeachtet war. Und man konnte ihm umso mehr eine Art zwanglosen Respekt entgegenbringen, als Onkel Venner selbst das älteste Wesen – ob belebt oder unbelebt – an der Pyncheon Street war, ausgenommen das Haus mit den sieben Giebeln und vielleicht die Ulme, die es überschattete.

Der Patriarch erschien nun bei Hepzibah in einem alten blauen Mantel, der modisch sein wollte und der abgelegten Garderobe eines eleganten Beamten entstammen musste. Die Hose war aus grobem Sackleinen, sehr kurz und hinten merkwürdig ausgebeult, passte aber im Gegensatz zum anderen Stück irgendwie zu ihm. Sein Hut hatte gar nichts mit seiner übrigen Ausstattung zu tun und nur sehr wenig mit dem Kopf, der ihn trug. So war Onkel Venner ein zusammengesetzter alter Herr, zum Teil er selbst, zu einem guten Teil aber auch jemand anders, ein Flickwerk aus verschiedenen Epochen, der Inbegriff vergänglicher Zeiten und Moden.

«Sie sind also wirklich Geschäftsfrau geworden», sagte er, «wirklich Geschäftsfrau! Na, das freut mich. Junge Leute sollten auf der Welt nie untätig bleiben, und alte auch nicht, wenn sie nicht Rheuma bekommen. Da bin ich schon vorgewarnt worden, und in zwei bis drei Jahren werde ich mein Geschäft aufgeben und mich auf meine Farm zurückziehen. Da drüben, das große Backsteinhaus – Armenhaus nennen es die Meisten, aber arm bin ich jetzt, dort will ich nichts tun und es schön haben. Und es freut mich, dass Sie jetzt auch Anstalten machen zu arbeiten, Miss Hepzibah.»

«Danke, Onkel Venner», lächelte Hepzibah, denn sie war dem einfachen, redseligen Alten immer zugetan gewesen. Doch wäre er eine alte Frau gewesen, hätte sie ihm wohl die nun geduldeten Vertraulichkeiten übel genommen.