Nur hatte sie unglücklicherweise auch mit einem bitteren Gefühl völlig gegensätzlicher Art zu kämpfen: der Auflehnung nämlich gegen die untätige Oberschicht, der sie eben noch voller Stolz angehört hatte. Wenn eine Dame im zarten, kostbaren Sommerkleid mit wehendem Schleier und anmutig schwingendem Rock vorüberglitt und man der ätherischen Erscheinung auf die elegant beschuhten Füße sehen musste, um zu wissen, ob sie durch den Staub ging oder in der Luft schwebte – wenn eine solche Vision sich dieser Nebenstraße offenbarte und eine flüchtige, zarte Spur nach sich zog wie duftende Teerosen –, auch dann steht zu befürchten, dass die Fratze der alten Hepzibah sich nicht allein mit Kurzsichtigkeit rechtfertigen ließ.
«Zu welchem Zweck», dachte sie und gab sich der Feindseligkeit hin, der allein es gelingt, der Armut angesichts des Reichtums die Würde zu nehmen, «zu welchem guten Lebenszweck hat die Weisheit der Vorsehung diese Frau bestimmt? Muss sich die ganze Welt abrackern, damit ihre Handflächen weiß und zart bleiben?»
Dann barg sie beschämt und reumütig ihr Gesicht. «Möge Gott mir vergeben!», bat sie.
Gott vergab ihr zweifellos. Aber wenn Hepzibah die inneren und äußeren Geschehnisse dieses ersten Morgens bedachte, begann sie zu befürchten, dass der Laden ihre Moral und ihren Glauben untergraben würde, ohne sehr wesentlich wenigstens zu ihrem irdischen Wohl beizutragen.
KAPITEL 4
Ein Tag hinter dem Ladentisch
Gegen Mittag sah Hepzibah einen stattlichen und wohlbeleibten älteren Herrn von bemerkenswert würdevollem Benehmen auf der anderen Seite gemessenen Schrittes die staubige weiße Straße hinunterspazieren. Im Schatten der Pyncheon-Ulme blieb er stehen, nahm seinen Hut ab, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen, und schien mit besonderer Aufmerksamkeit das baufällige, wenig ansehnliche Haus mit den sieben Giebeln zu mustern. Dabei war er selbst auf ganz andere Art ebenso sehenswert wie das Haus. Man hätte kein besseres Beispiel größter Ehrbarkeit suchen, geschweige denn finden können, die sich durch schwer erklärliche Zauberei nicht nur in Aussehen und Haltung äußerte, sondern sich auch in seiner Kleidung ausdrückte und sie zu einem notwendigen Teil seines Wesens machte. Ein greifbarer Unterschied zu den Kleidern anderer Leute schien zwar nicht zu bestehen, und doch umgab sie ein umfassender, gravitätischer Ernst, der ihren Träger auszeichnen musste, da er weder dem Schnitt noch dem Stoff zugerechnet werden konnte. Auch von seinem Stock mit Goldknauf, einem nützlichen Begleiter aus dunklem poliertem Holz, ließ sich Ähnliches sagen, und hätte er sich dazu entschlossen, selbst spazieren zu gehen, hätte man ihn überall als recht überzeugenden Vertreter seines Herrn anerkannt. Von dessen Charakter – der sein ganzes Auftreten so verblüffend prägte, wie wir es dem Leser zu schildern versuchen – nahm man nichts Wesentlicheres als Stand, Gewohnheiten und Lebensumstände wahr. Man spürte, dass er eine bedeutende, gewichtige und einflussreiche Persönlichkeit war; und besonders sein Reichtum war so offensichtlich, als hätte er ein Schild mit dem Stand seines Bankkontos mitgeführt oder die Zweige der Pyncheon-Ulme berührt und sie wie Midas in Gold verwandelt.
In seiner Jugend hatte er vermutlich als gut aussehend gegolten, in seinem jetzigen Alter war seine Stirn zu schwer, das verbliebene Haar zu grau, die Schläfen waren zu kahl, die Augen zu kalt und die Lippen zu verkniffen, als dass man an Schönheit hätte denken mögen. Bestimmt hätte er ein gutes Modell für ein wuchtiges Porträt abgegeben, ein besseres wohl als je zuvor in seinem Leben, auch wenn sein Blick allenfalls richtig grimmig wurde, wenn man ihn auf die Leinwand bannte. Der Künstler hätte wohl das Bedürfnis gehabt, sein Gesicht zu ergründen und dessen Wandlungsfähigkeit zu beweisen, es zu verdüstern mit einem Stirnrunzeln – oder aufstrahlen zu lassen in einem Lächeln.
Während der ältere Herr das Haus der Pyncheons betrachtete, zogen sowohl das Stirnrunzeln wie das Lächeln nacheinander über sein Gesicht. Er betrachtete das Schaufenster, führte die Goldrandbrille in seiner Hand ans Auge und studierte die Spielsachen und Gebrauchsgegenstände in Hepzibahs bescheidener Auslage gründlich. Zunächst schien es ihm nicht zu gefallen – ja außerordentlich zu missfallen –, aber gleich darauf lächelte er. Und während dieses Lächeln noch um seine Lippen spielte, erhaschte er einen Blick auf Hepzibah, die sich unwillkürlich zum Fenster vorgebeugt hatte, und aus dem sauren, unangenehmen Grinsen wurde strahlendste Liebenswürdigkeit und Wohlwollen. Er verbeugte sich mit einer gelungenen Mischung aus Zurückhaltung und galanter Freundlichkeit und setzte seinen Weg fort.
«Da ist er!», sagte sich Hepzibah und schluckte ein sehr bitteres Gefühl hinunter, das sie wenigstens ins Herz zurück verbannen wollte, wenn sie es schon nicht vertreiben konnte. «Nimmt mich wunder, was er dazu meint. Ob es ihm gefällt? Oh! – Er schaut zurück!»
Der Herr war stehen geblieben und hatte sich halb umgedreht, den Blick auf dem Schaufenster. Jetzt drehte er sich sogar ganz um und tat ein paar Schritte, als beabsichtige er, den Laden zu betreten, aber der Zufall wollte es, dass ihm Hepzibahs erster Kunde zuvorkam, der kleine Menschenfresser, dessen sehnsüchtiger Blick diesmal von einem Pfefferkuchenelefanten magisch angezogen wurde. Was für einen ungeheuren Appetit der Bengel hatte! – Zwei Jim Crows gleich nach dem Frühstück – und jetzt ein Elefant als Appetithäppchen vor dem Mittagessen! Als dieser Kauf getätigt war, hatte der ältere Herr seinen Weg fortgesetzt und war um die Ecke verschwunden.
«Halte davon, was du willst, Vetter Jaffrey!», brummte die Jungfer und zog sich wieder zurück, nachdem sie vorsichtig den Kopf nach draußen gestreckt und die Straße hinauf- und hinuntergespäht hatte. «Halte davon, was du willst! Du hast mein kleines Schaufenster gesehen! Und wenn schon! – Was geht es dich an? Gehört das Haus der Pyncheons nicht mir, solange ich lebe?»
Nach diesem Vorfall floh Hepzibah in den hinteren Salon, wo sie nach einem halb fertigen Strumpf griff und mit fahriger Hast daran zu stricken begann, bis sie rasch wieder genug hatte von den widerspenstigen Maschen, das Strickzeug beiseitewarf und unruhig durch den Raum irrte. Schließlich blieb sie vor dem Porträt ihres gestrengen puritanischen Ahnherrn und Gründers des Hauses stehen. Einerseits war dieses Bild fast mit der Leinwand verschmolzen und versteckte sich hinter dem Dunkel der Zeiten. Andererseits kam es ihr aber so vor, als sei es immer beherrschender und ausdrucksvoller geworden, seitdem sie es als Kind kennengelernt hatte. Denn während Umrisse und Körperlichkeit sich dem Blick des Betrachters zunehmend entzogen, schien das kühne, harte, weniger offenbare Wesen des Mannes in einer Art geistigem Kontrast hervorzutreten. Diese Wirkung ist bei alten Bildern hin und wieder anzutreffen. Sie nehmen Züge an, die ein Künstler von der Harmlosigkeit heutiger Maler seinem Auftraggeber nicht im Traum als Ausdruck seines Charakters antragen würde und die wir doch sogleich als ungeschminkte Wahrheit einer menschlichen Seele erkennen. In diesen Fällen hat sich das innere Wissen des Malers um das Wesen seines Modells dem Bild selbst mitgeteilt und wird sichtbar, sobald die Zeit die oberflächliche Farbe abgetragen hat.
Während Hepzibah das Porträt betrachtete, zitterte sie vor seinem Blick. Tiefsitzende Ehrfurcht ließ sie davor zurückschrecken, den Charakter des Vorbilds so streng zu beurteilen, wie es eine Ahnung der Wahrheit von ihr verlangte.
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