Es ist Punkt sechs. Seine silberne Uhr, Hochzeitsgeschenk der klugen Schwägerin Bernarde Casterot, besitzt er längst nicht mehr. Die Quittung der städtischen Pfandleihanstalt über sie und über einige andere magere Schätze ist bereits seit vorigem Herbste verfallen. Soubirous weiß, es ist Punkt sechs, obwohl die Glocken der Pfarrkirche von Saint Pierre noch nicht zur Frühmesse geläutet haben. Arme Leute haben die Zeit im Gefühl. Sie wissen auch ohne Zifferblatt und Glockenton, was die Uhr geschlagen hat. Arme Leute haben immer Angst, zu spät zu kommen.

Der Mann tastet nach seinen Holzpantinen, behält sie aber in der Hand, um keinen Lärm zu machen. Bloßfüßig steht er auf dem eiskalten Steinboden und lauscht den vielfältigen Atemzügen seiner schlafenden Familie, einer sonderbaren Musik, die ihm das Herz bedrängt. Sechs Menschen teilen den Raum. Er und Louise haben immerhin ihr gutes Hochzeitsbett behalten, diesen Zeugen eines hoffnungsvollen Anbeginns. Die beiden halbwüchsigen Mädchen aber, Bernadette und Marie, müssen auf einem sehr harten Lager schlafen. Die zwei Jüngsten schließlich, Jean Marie und Justin, hat die Mutter auf einen Strohsack gebettet, der tagsüber eingerollt wird.

François Soubirous, der sich noch immer nicht von seinem Platz rührt, wirft einen Blick nach dem offenen Herd. Es ist eigentlich kein rechter Herd, sondern eine grobe Feuerstelle, die der Steinmetz André Sajou, der Eigentümer dieser prächtigen Wohnung, für seine Mieter improvisiert hat. Unter der Asche glimmen und knacken noch ein paar der frischen Äste, die zu feucht waren, um zu verbrennen. Manchmal zuckt ein blasser Schein auf. Der Mann aber hat nicht die Energie, den Rest des Feuers aufzuschüren. Er wendet das Aug zu den Fenstern, hinter denen die Nacht zu ergrauen beginnt. Da verwandelt sich sein tiefes Mißbehagen in eine zornige Bitterkeit. Ein Fluch sitzt ihm auf den Lippen. Soubirous ist ein sonderbarer Mann. Mehr als die elende Stube ärgern ihn diese beiden vergitterten Fenster, eines größer, das andre kleiner, die zwei niederträchtig schielenden Augen, die auf den engen, dreckigen Hof des Cachots hinausschaun, wo der Misthaufen der ganzen Gegend duftet. Man war schließlich kein Landstreicher, kein Lumpensammler, sondern ein freier, regelrechter Müller, ein Mühlenbesitzer, auf seine Art nichts andres, als es Monsieur de Lafite ist mit seinem großen Sägewerk.

Die Boly-Mühle unterm Château Fort hatte sich sehen lassen können weit und breit. Auch die Escobé-Mühle in Arcizac-les-Angles war gar nicht übel. Mit der alten Bandeau-Mühle konnte zwar niemand Ehren einheimsen, aber eine Mühle war sie schließlich doch. Ist er, der gute Müller Soubirous, vielleicht schuld daran, daß der rädertreibende Lapaca-Bach seit Jahren ausgetrocknet ist, daß die Getreidepreise steigen, daß die Arbeitslosigkeit wächst? Daran ist der liebe Gott schuld, der Kaiser, der Präfekt oder der Teufel weiß wer, nicht aber der brave François Soubirous, wenn der Mensch auch gern einmal ein Glas trinkt und im Wirtshaus die Karten mischt. Mag er, Soubirous, aber schuld sein oder nicht, was hilft’s, man wohnt nun im Cachot. Und der Cachot in der Rue des Petites Fossées ist gar kein Wohnhaus, sondern der ehemalige Stadtarrest. Die Wände schwitzen vor Feuchtigkeit. Der Schwamm sitzt zwischen den Ritzen. Alles Holz wirft sich. Das Brot verschimmelt schnell. Im Sommer brät man hier, im Winter erfriert man.