Das neue Lied

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 Das neue Lied

Arthur Schnitzler

Das neue Lied

Ich bin nicht schuld daran, Herr von Breiteneder ... bitte sehr, das kann keiner sagen!« Karl Breiteneder hörte diese Worte wie von fern an sein Ohr schlagen und wußte doch ganz genau, daß der, der sie sprach, neben ihm einherging – ja er spürte sogar den Weindunst, in den diese Worte gehüllt waren. Aber er erwiderte nichts. Es war ihm unmöglich, sich in Auseinandersetzungen einzulassen; er war zu müde und zerrüttet von dem furchtbaren Erlebnis dieser Nacht, und es verlangte ihn nur nach Alleinsein und frischer Luft. Darum war er auch nicht nach Hause gegangen, sondern lieber im Morgenwind die menschenleere Straße weiterspaziert, ins Freie hinaus, den bewaldeten Hügeln entgegen, die drüben aus leichten Mainebeln hervorstiegen. Aber ein Schauer nach dem anderen durchlief ihn vom Kopf bis zu den Füßen, und er spürte nichts von der wohligen Frische, die ihn sonst nach durchwachten Nächten in der Frühluft zu durchrieseln pflegte. Er hatte immer das entsetzliche Bild vor Augen, dem er entflohen war.

Der Mann neben ihm mußte ihn eben erst eingeholt haben. Was wollte denn der von ihm? ... warum verteidigte er sich? ... und warum gerade vor ihm? ... Er hatte doch nicht daran gedacht, dem alten Rebay einen lauten Vorwurf zu machen, wenn er auch sehr gut wußte, daß der die Hauptschuld trug an dem, was geschehen war. Jetzt sah er ihn von der Seite an. Wie schaute der Mensch aus! Der schwarze Gehrock war zerdrückt und fleckig, ein Knopf fehlte, die andern waren an den Rändern ausgefranst; in einem Knopfloch steckte ein Stengel mit einer abgestorbenen Blüte. Gestern abend hatte Karl die Blume noch frisch gesehen. Mit dieser selben Nelke geschmückt, war der Kapellmeister Rebay an einem klappernden Pianino gesessen und hatte die Musik zu sämtlichen Produktionen der Gesellschaft Ladenbauer besorgt, wie er es seit bald dreißig Jahren tat. Das kleine Wirtshaus war ganz voll gewesen, bis in den Garten hinaus standen die Tische und Stühle, denn heute war, wie es mit schwarzen und roten Buchstaben auf großen, gelben Zetteln zu lesen stand: »Erstes Wiederauftreten des Fräulein Maria Ladenbauer, genannt die ›weiße Amsel‹, nach ihrer Genesung von schwerem Leiden.«

Karl atmete tief auf. Es war ganz licht geworden, er und der Kapellmeister waren längst nicht mehr die einzigen auf der Straße. Hinter ihnen, auch von Seitenwegen, ja sogar von oben aus dem Walde, ihnen entgegen, kamen Spaziergänger. Jetzt erst fiel es Karl ein, daß heute Sonntag war. Er war froh, daß er keinerlei Verpflichtung hatte, in die Stadt zu gehen, obzwar ihm ja sein Vater auch diesmal einen versäumten Wochentag nachgesehen hätte, wie er es schon oft getan. Das alte Drechslergeschäft in der Alserstraße ging vorläufig auch ohne ihn, und der Vater wußte aus Erfahrung, daß sich die Breiteneders bisher noch immer zur rechten Zeit zu einem soliden Lebenswandel entschlossen hatten. Die Geschichte mit Marie Ladenbauer war ihm allerdings nie ganz recht gewesen. »Du kannst ja machen, was du willst,« hatte er einmal milde zu Karl gesagt, »ich bin auch einmal jung gewesen ... aber in den Familien von meine Mädeln hab ich doch nie verkehrt! Da hab ich doch immer zuviel auf mich gehalten.«

Hätte er auf den Vater gehört – dachte Karl jetzt – so wäre ihm mancherlei erspart geblieben. Aber er hatte die Marie sehr gern gehabt. Sie war ein gutmütiges Geschöpf, hing an ihm, ohne viel Worte zu machen, und wenn sie Arm in Arm mit ihm spazieren ging, hätte sie keiner für eine gehalten, die schon so manches erlebt hatte. Übrigens ging es bei ihren Eltern so anständig zu wie in einem bürgerlichen Hause. Die Wohnung war nett gehalten, auf der Etagere standen Bücher; öfters kam der Bruder des alten Ladenbauer zu Besuch, der als Beamter beim Magistrat angestellt war, und dann wurde über sehr ernste Dinge geredet: Politik, Wahlen und Gemeindewesen. Am Sonntag spielte Karl oben manchmal Tarock; mit dem alten Ladenbauer und mit dem verrückten Jedek, demselben, der abends im Klownkostüm auf Gläser- und Tellerrändern Walzer und Märsche exekutierte; und wenn er gewann, bekam er sein Geld ohne weiteres ausbezahlt, was ihm in seinem Kaffeehaus durchaus nicht so regelmäßig passierte. In der Nische am Fenster, vor dem Glasbilder mit Schweizer Landschaften hingen, saß die blasse lange Frau Jedek, die abends in der Vorstellung langweilige Gedichte vortrug, plauderte mit der Marie und nickte dazu beinahe ununterbrochen.