Marie sah aber zu Karl herüber, grüßte ihn scherzend mit der Hand oder setzte sich zu ihm und schaute ihm in die Karten. Ihr Bruder war in einem großen Geschäft angestellt, und wenn ihm Karl eine Zigarre gab, so revanchierte er sich sofort. Auch brachte er seiner Schwester, die er sehr verehrte, zuweilen von einem Stadtzuckerbäcker etwas zum Naschen mit. Und wenn er sich empfahl, sagte er mit halbgeschlossenen Augen: »Leider daß ich anderweitig versagt bin ...« – Freilich, am liebsten war Karl mit Marie allein. Und er dachte an einen Morgen, an dem er mit ihr denselben Weg gegangen war, den er jetzt ging, dem leise rauschenden Wald entgegen, der dort oben auf dem Hügel anfing. Sie waren beide müde gewesen, denn sie kamen geradeswegs aus dem Kaffeehaus, wo sie bis zum Morgengrauen mit der ganzen Volkssängergesellschaft zusammengesessen waren; nun legten sie sich unter eine Buche am Rand eines Wiesenhanges und schliefen ein. Erst in der heißen Stille des Sommermittags wachten sie auf, gingen noch weiter hinein in den Wald, plauderten und lachten den ganzen Tag, ohne zu wissen warum, und erst spät abends zur Vorstellung brachte er sie wieder in die Stadt... So schöne Erinnerungen gab es manche, und die beiden lebten sehr vergnügt, ohne an die Zukunft zu denken. Zu Beginn des Winters erkrankte Marie plötzlich. Der Doktor hatte jeden Besuch strenge verboten, denn die Krankheit war eine Gehirnentzündung oder so etwas ähnliches, und jede Aufregung sollte vermieden werden. Karl ging anfangs täglich zu den Ladenbauers, sich erkundigen; später aber, als die Sache sich länger hinzog, nur jeden zweiten und dritten Tag. Einmal sagte ihm Frau Ladenbauer an der Türe: »Also heut dürfen Sie schon hineinkommen, Herr von Breiteneder. Aber bitt schön, daß Sie sich nicht verraten.« – »Warum soll denn ich mich verraten?« fragte Karl, »was ist denn g'schehn?« – »Ja, mit den Augen ist leider keine Hilfe mehr.« – »Wieso denn?« – »Sie sieht halt nichts mehr ..., das ist ihr leider Gottes von der Krankheit zurückgeblieben. Aber sie weiß noch nicht, daß es unheilbar ist ... Nehmen Sie sich zusammen, daß sie nichts merkt.« Da stammelte Karl nur ein paar Worte und ging. Er hatte plötzlich Angst, Marie wiederzusehen. Es war ihm, als hätte er nichts an ihr so gern gehabt, als ihre Augen, die so hell gewesen waren und mit denen sie immer gelacht hatte. Er wollte morgen kommen. Aber er kam nicht, nicht am nächsten und nicht am übernächsten Tage. Und immer weiter schob er den Besuch hinaus. Er wollte sie erst wiedersehen, nahm er sich vor, bis sie sich selbst in ihr Schicksal gefunden haben konnte. Dann fügte es sich, daß er eine Geschäftsreise antreten mußte, auf die der Vater schon lange gedrungen hatte. Er kam weit herum, war in Berlin, Dresden, Köln, Leipzig, Prag. Einmal schrieb er an die alte Frau Ladenbauer eine Karte, in der stand: Gleich nach seiner Rückkehr würde er hinaufkommen, und er ließe die Marie schön grüßen. – Im Frühjahr kam er zurück; aber zu den Ladenbauers ging er nicht. Er konnte sich nicht entschließen ... Natürlich dachte er auch von Tag zu Tag weniger an sie und nahm sich vor, sie ganz zu vergessen. Er war ja nicht der erste und nicht der einzige gewesen. Er hörte auch gar nichts von ihr, beruhigte sich mehr und mehr, und aus irgendeinem Grunde bildete er sich manchmal ein, daß Marie auf dem Land bei Verwandten lebte, von denen er sie manchmal sprechen gehört hatte.

Da führte ihn gestern abends – er wollte Bekannte besuchen, die in der Nähe wohnten – der Zufall an dem Wirtshaus vorüber, wo die Vorstellungen der Gesellschaft Ladenbauer stattzufinden pflegten. Ganz in Gedanken wollte er schon vorübergehen, da fiel ihm das gelbe Plakat ins Auge, er wußte, wo er war, und ein Stich ging ihm durchs Herz, bevor er ein Wort gelesen hatte.