Daher wagte keiner, den Gast aus dem Jenseits durch eine neugierige Frage, eine abfällige Bemerkung oder einen taktlosen Scherz zu kränken. Einige Geladene, denen die Legende des Phantoms zu Ohren gekommen war und die dessen von dem Maschinenmeister stammende Beschreibung kannten – sie wußten noch nichts von Joseph Buquets Tod –, fanden im stillen, daß der Mann am Tischende recht gut die Personifizierung jener Gestalt sein könnte, die sich ihrer Meinung nach der nicht auszutreibende Aberglaube des Opernpersonals ausgedacht hatte; allerdings hatte das Phantom laut der Legende keine Nase, dieser Fremde dagegen wohl eine, die Moncharmin in seinen ›Memoiren‹ als durchsichtig bezeichnet. »Seine Nase«, schreibt er, »war lang, fein und durchsichtig« – und ich möchte hinzufügen, daß es sich vielleicht um eine künstliche Nase handelte. Moncharmin hat womöglich ihren Glanz für Durchsichtigkeit gehalten. Jeder weiß, daß die Wissenschaft bewundernswerte künstliche Nasen für diejenigen herzustellen vermag, die entweder von der Natur keine mitbekommen oder ihre echte bei einer Operation verloren haben. Hat das Phantom tatsächlich an jenem Abend dem Banquet der Direktoren beigewohnt, ohne eingeladen gewesen zu sein? Und können wir mit Bestimmtheit sagen, daß dieses Gesicht wirklich das des Phantoms der Oper war? Wer wagt es zu entscheiden? Wenn ich diesen Zwischenfall hier erwähne, so nicht im entferntesten, um dem Leser weiszumachen oder weismachen zu wollen, daß das Phantom zu solcher Unverfrorenheit fähig war, sondern nur, weil es im Bereich des Möglichen liegt. Das halte ich für einen ausreichenden Grund.
Armand Moncharmin schreibt in seinen ›Memoiren‹, Kapitel IX, wörtlich: »Wenn ich an jenen ersten Abend zurückdenke, kann ich das, was Monsieur Debienne und Monsieur Poligny uns in ihrem Arbeitszimmer anvertrauten, nicht von der Anwesenheit des phantomhaften Unbekannten an unserer Tafel trennen.«
Nun war folgendes vorgefallen:
Debienne und Poligny, die an der Tischmitte saßen, hatten den Mann mit dem Totenkopf noch nicht bemerkt, als dieser plötzlich zu sprechen begann.
»Die Ballettratten haben recht«, sagte er. »Vielleicht ist der Tod des armen Buquet gar nicht so natürlich wie man annimmt.«
Debienne und Poligny zuckten zusammen.
»Buquet ist tot?« riefen sie.
»Ja«, antwortete der Mann oder der Schatten des Mannes gelassen. »Er wurde heute abend in der dritten Versenkung zwischen einer Kulissenstütze und einem Dekor für ›Le Roi de Lahore‹ erhängt aufgefunden.«
Die beiden Direktoren oder genauer Ex-Direktoren sprangen auf und starrten den Sprecher an. Sie waren erregter, als es die Mitteilung, daß ein Maschinenmeister sich erhängt habe, rechtfertigte. Sie wechselten Blicke. Sie sahen weiß wie das Tischtuch aus. Schließlich bedeutete Debienne Richard und Moncharmin, ihm zu folgen, während Poligny sich bei den Gästen entschuldigte, und zu viert gingen sie in das Direktionszimmer. Ich gebe wieder Moncharmin das Wort:
»Monsieur Debienne und Monsieur Poligny schienen immer erregter zu werden«, berichtet er in seinen ›Memoiren‹, »und wir hatten den Eindruck, daß sie uns etwas Höchstpeinliches sagen wollten. Erst fragten sie, ob wir das Individuum am Tischende kannten, das sie von Joseph Buquets Tod unterrichtet habe, und als wir das verneinten, wirkten sie noch ratloser. Sie ließen sich von uns die Hauptschlüssel geben, warfen einen Blick darauf, schüttelten den Kopf und empfahlen uns dann, unter größter Geheimhaltung neue Schlösser an allen Zimmern, Räumen und Gegenständen anzubringen, die wir hermetisch verschlossen halten wollten. Sie sagten das so komisch, daß wir darüber lachen mußten und uns erkundigten, ob es denn in der Oper Diebe gebe. Sie antworteten, es gebe noch etwas Schlimmeres, nämlich das Phantom. Das brachte uns nochmals zum Lachen, denn wir faßten es als Scherz auf, als Krönung dieses Privatissimums. Auf ihre Bitte hin wurden wir wieder ›ernst‹, um ihnen eine Freude zu machen und auf ihr Spiel einzugehen. Sie sagten uns, daß sie das Phantom nie erwähnt hätten, wenn sie nicht von dem Phantom persönlich beauftragt worden wären, uns die Pflicht aufzuerlegen, ihm liebenswürdig zu begegnen und seine sämtlichen Forderungen zu erfüllen. Sie hätten freilich, allzu froh darüber, ein Reich zu verlassen, über das dieser tyrannische Schatten unumschränkt herrsche, und mit einem Schlag davon befreit zu werden, bis zum letzten Augenblick gezögert, uns in ein derartig sonderbares Abenteuer einzuweihen, auf das unsere kritischen Geister bestimmt nicht gefaßt seien, doch nun habe die Mitteilung von Joseph Buquets Tod sie brutal daran erinnert, daß jedesmal, wenn sie die Wünsche des Phantoms mißachteten, irgendein phantastisches oder fatales Ereignis sie von neuem auf ihre Gehorsamspflicht hingewiesen habe.«
Während dieser strengvertraulichen Eröffnungen musterte ich Richard. Richard stand als Student im Ruf eines Spaßvogels, das heißt, er versäumte keine der tausend Gelegenheiten, jemanden zum Narren zu halten, und die Concierges des Boulevard Saint-Michel konnten ein Lied davon singen. Außerdem schien er das starke Stück zu genießen, das man ihm da auftischte. Er kostete es aus, wenn es auch durch Joseph Buquets Tod recht gepfeffert war. Er schüttelte betrübt den Kopf, und bei den Worten der anderen setzte er allmählich die Miene eines Mannes auf, der es bitter bereute, die Direktion der Oper übernommen zu haben, nachdem er erfahren hatte, daß ein Phantom darin hauste. Mir blieb nichts anderes übrig, als seinem Beispiel zu folgen und tiefe Verzweiflung vorzutäuschen. Trotz unserer Bemühungen konnten wir schließlich nicht mehr umhin, ›herauszuplatzen‹, und als Monsieur Debienne und Monsieur Poligny unseren plötzlichen Übergang von tiefster Niedergeschlagenheit zu höchster Heiterkeit sahen, schienen sie uns für übergeschnappt zu halten.
Richard, der die Posse zu lang fand, fragte süßsauer: »Was verlangt eigentlich das Phantom?!«
Monsieur Poligny ging zu seinem Schreibtisch und kam mit einer Abschrift des Pachtvertrags zurück.
Der Pachtvertrag beginnt mit den Worten:
Die Direktion der Oper ist verpflichtet, den Aufführungen der Académie nationale de Musique den Glanz zu verleihen, der Frankreichs führender lyrischer Bühne gebührt, und schließt mit Paragraph 98:
Dieses Vorrecht verfällt:
1. Wenn der Direktor die im Pachtvertrag festgelegten Bedingungen nicht erfüllt.
Es folgen die Bedingungen.
»Diese Abschrift«, berichtet Moncharmin, »war mit schwarzer Tinte geschrieben und stimmte genau mit der überein, die wir besaßen.
Auf dem Pachtvertrag, den uns Monsieur Poligny vorlegte, entdeckten wir hingegen einen mit roter Tinte geschriebenen Zusatz – in krakeliger, ungelenker Handschrift, als hätte ein Kind, das noch ständig absetzen mußte und sein eigenes Gekritzel nicht lesen konnte, sie mit einem Streichholz hingeschmiert. Dieser seltsame Zusatz zu Paragraph 98 lautete wörtlich:
5. Wenn der Direktor mehr als vierzehn Tage mit der Zahlung des Monatsgeldes in Verzug ist, das er dem Phantom der Oper schuldet und das bis auf Widerruf 20.000 Francs beträgt, da es auf 240.000 Francs jährlich festgesetzt ist.
Monsieur Poligny zeigte uns mit zögerndem Finger diese letzte Klausel, auf die wir keineswegs gefaßt waren.
›Ist das alles? Oder verlangt es noch mehr‹, fragte Richard kaltblütig.
›Ja‹, antwortete Monsieur Poligny.
Er blätterte im Pachtvertrag und las dann vor:
Paragraph 63: Die große Proszeniumsloge Nr.
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