Als der Korridor wieder leer war, durchquerte er ihn, stieß die Tür auf und schlug sie rasch hinter sich zu. Er stand im Stockdunkeln. Die Gaslampe war ausgedreht worden.
»Hier ist jemand«, sagte Raoul mit bebender Stimme. »Warum verstecken Sie sich?«
Bei diesen Worten lehnte er immer noch den Rücken an die geschlossene Tür.
Finsternis und Schweigen. Raoul hörte nur seinen eigenen Atem. Es drang sicher nicht zu ihm durch, daß seine Taktlosigkeit alle Vorstellungen übertraf.
»Sie kommen hier nicht heraus, ehe ich es zulasse«, rief der junge Mann. »Wenn Sie mir nicht antworten, sind Sie ein Feigling! Aber ich werde Sie entlarven!«
Er steckte ein Streichholz an. Die Flamme beleuchtete die Garderobe. Es war niemand darin! Raoul zündete, nachdem er die Tür sorgfältig abgeschlossen hatte, die Lampen an. Er ging ins Badezimmer, riß die Schränke auf, suchte, tastete mit feuchten Händen die Wände ab. Nichts!
»Mein Gott«, sagte er laut, »bin ich verrückt geworden?«
Zehn Minuten lauschte er dem Zischen des Gases in der Friedlichkeit der verlassenen Garderobe; trotz seiner Verliebtheit dachte er nicht daran, ein Band zu entwenden, das mit dem Duft der geliebten Frau getränkt war. Dann ging er hinaus, ohne zu wissen, was er tat und wohin er ging. Während er herumirrte, fuhr ihm plötzlich ein eisiger Wind ins Gesicht. Er stand am Fuße einer schmalen Treppe, über die Bühnenarbeiter eine Art mit einem weißen Tuch bedeckte Bahre hinuntertrugen.
»Verzeihung«, fragte er einen der Männer, »wo ist der Ausgang?«
»Dort, geradeaus«, antwortete dieser. »Die Tür steht offen. Aber lassen Sie uns erst durch.«
Raoul zeigte auf die Bahre und fragte mechanisch:
»Was ist denn das?«
Der Bühnenarbeiter antwortete:
»Das ist Joseph Buquet, den man in der dritten Versenkung zwischen einer Kulissenstütze und einem Dekor für ›Le Roi de Lahore‹ erhängt aufgefunden hat.«
Raoul machte den Bahrenträgern Platz, nahm den Hut ab und ging dann nach draußen.
3. Kapitel
In dem Monsieur Debienne und Monsieur Poligny den neuen Operndirektoren Armand Moncharmin und Firmin Richard zum ersten Mal vertraulich den wahren und geheimnisumwitterten Grund für ihren Abschied von der Académie nationale de Musique nennen
Indessen fand die Abschiedsfeier statt.
Dieses großartige Fest wurde, wie gesagt, von den scheidenden Direktoren der Oper, Debienne und Poligny, gegeben, die, wie es heute heißt, ›in Schönheit sterben wollten‹.
Alles, was im damaligen Paris gesellschaftlich oder künstlerisch einen Namen hatte, steuerte zur Verwirklichung dieses ausgesuchten Programms bei.
Man versammelte sich im Foyer de la Danse, wo die Sorelli, ein Glas Champagner in der Hand, eine kurze Ansprache auf der Zungenspitze, auf die zurückgetretenen Direktoren wartete. Hinter ihr drängten sich ihre jungen und alten Kolleginnen vom Corps de ballet; die einen unterhielten sich flüsternd über die Tagesereignisse, die anderen zwinkerten oder winkten heimlich ihren Freunden zu, die sich bereits plaudernd um das Büfett scharten, das zwischen Boulengers ›Danse guerrière‹ und ›Danse champêtre‹ aufgestellt worden war.
Einige Tänzerinnen trugen schon wieder ihre Gesellschaftskleider, die meisten hatten noch ihren Tüllrock an, aber alle glaubten, eine feierliche Miene aufsetzen zu müssen. Nur die kleine Jammes, die mit der Unbekümmertheit ihrer fünfzehn Lenze – welch glückliches Alter! – das Phantom und Joseph Buquets Tod vergessen zu haben schien, schnatterte, plapperte, hüpfte und alberte so munter darauflos, daß die Sorelli sie streng und ungehalten zur Ordnung rufen mußte, als Debienne und Poligny auf den Stufen des Foyer de la Danse erschienen.
Alle bemerkten die blendende Laune der scheidenden Direktoren, was jeder Provinzler unnatürlich gefunden hätte, was aber in Paris als Zeichen guten Geschmackes galt. Wer nicht gelernt hat, seinen Schmerz hinter der Maske der Freude und seine innere Fröhlichkeit hinter der Larve der Betrübtheit, Langeweile oder Gleichgültigkeit zu verbergen, wird nie ein richtiger Pariser. Wenn man weiß, daß ein Freund Kummer hat, so versuche man nicht, ihn zu trösten: er wird sagen, daß er schon getröstet sei; wenn er dagegen Glück hatte, so hüte man sich, ihn zu beglückwünschen: er findet sein Glück so selbstverständlich, daß er über dessen Erwähnung erstaunt wäre. In Paris ist man immer auf dem Maskenball, und so ›erfahrene‹ Leute wie Debienne und Poligny begingen bestimmt nie den Fehler, im Foyer de la Danse ihre echte Besorgnis zu zeigen. Deshalb lächelten sie der Sorelli heiter zu, die ihre Ansprache begann, als ein Zwischenruf der verrückten kleinen Jammes das Lächeln der Direktoren so brutal wegwischte, daß das dahinter verborgene Gesicht der Verzweiflung und des Schreckens allen enthüllt wurde:
»Das Phantom der Oper!«
Die Jammes stieß diese Worte mit unbeschreiblichem Entsetzen hervor und deutete dabei mit dem Finger in der Menge der Befrackten auf ein so bleiches, schauriges, häßliches, hohläugiges Gesicht, daß der von ihr bezeichnete Totenkopf sofort großen Erfolg einheimste.
»Das Phantom der Oper! Das Phantom der Oper!«
Man lachte darüber, man drängte zu ihm hin, man wollte dem Phantom der Oper etwas zu trinken anbieten – aber es war verschwunden! Es war in der Menge untergetaucht, und man suchte es vergeblich, während zwei ältere Herren sich bemühten, die kleine Jammes zu beruhigen, und die kleine Giry wie am Spieß schrie.
Die Sorelli war wütend; sie konnte ihre Ansprache nicht beenden; Debienne und Poligny umarmten sie, dankten ihr und verschwanden genauso schnell wie das Phantom. Niemand wunderte sich darüber, denn man wußte, daß sie sich ein Stockwerk höher im Foyer du Chant der gleichen Zeremonie unterziehen mußten und daß sie anschließend ihre engsten Freunde zum letzten Mal in dem großen Vestibül vor dem Direktionszimmer empfingen, wo ein üppiges Souper sie erwartete.
Dort finden wir sie in Gesellschaft der neuen Direktoren Armand Moncharmin und Firmin Richard wieder. Erstere kannten letztere zwar kaum, überschütteten sie aber trotzdem mit überschwenglichen Freundschaftsbeweisen, die von diesen mit tausend Komplimenten erwidert wurden; dadurch klärten sich die Mienen der Geladenen, die einen verdrießlichen Abend befürchtet hatten, unverzüglich auf. Das Souper verlief fast fröhlich, und als die Trinksprüche an die Reihe kamen, zeigte sich der Regierungsvertreter, indem er die ruhmreiche Vergangenheit mit der erfolgverheißenden Zukunft verband, darin so bewandert, daß bald größte Herzlichkeit unter den Gästen herrschte. Die offizielle Amtsübergabe hatte bereits am Tage zuvor ohne Aufwand stattgefunden, und die zwischen der alten und der neuen Direktion noch zu regelnden Fragen waren unter dem Vorsitz des Regierungsvertreters beiderseits so entgegenkommend gelöst worden, daß es wirklich nicht weiter verwundern konnte, an diesem denkwürdigen Abend vier strahlende Direktorengesichter zu sehen.
Debienne und Poligny hatten schon Armand Moncharmin und Firmin Richard die beiden winzigen Hauptschlüssel übergeben, die zu sämtlichen Türen der Académie nationale de Musique – und das waren tausende – paßten. Diesen galt die allgemeine Neugier und sie wanderten gerade von Hand zu Hand, als die Aufmerksamkeit einiger abgelenkt wurde, die am Tischende jenes seltsame, bleiche, unwirkliche Gesicht mit den hohlen Augen erblickten, das bereits im Foyer de la Danse aufgetaucht und von der kleinen Jammes mit dem Ausruf empfangen worden war: »Das Phantom der Oper!«
Es saß dort genauso unbefangen wie jeder andere Gast, nur daß es weder etwas aß noch trank.
Diejenigen, die es anfangs lächelnd betrachteten, wandten schließlich den Kopf ab, denn sein Anblick erweckte die finstersten Vorstellungen. Keiner nahm die Scherze aus dem Foyer auf, keiner rief: »Da ist ja das Phantom der Oper!«
Es hatte den Mund nicht aufgemacht, und nicht einmal seine Nachbarn hätten sagen können, wann es sich neben sie gesetzt hatte, aber jeder dachte bei sich, daß Tote, wenn sie sich an den Tisch der Lebenden setzten, kein makabreres Gesicht zeigen könnten. Firmin Richards und Armand Moncharmins Freunde glaubten, daß dieser knöcherne Gast ein Intimus von Debienne und Poligny sei, während Debiennes und Polignys Freunde annahmen, daß das Gerippe zu Richards und Moncharmins Bekanntenkreis gehöre.
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