Er machte den Brief auf und las:

»Mein lieber Direktor,

verzeihen Sie mir bitte, daß ich Ihre Zeit in Anspruch nehme, während Sie gerade über das Los der besten Opernsänger entscheiden, wichtige Engagements verlängern und neue abschließen, und das mit sicherem Blick, Sinn fürs Theater, Kenntnis des Publikums und seines Geschmacks, sowie einer Autorität, die mich trotz meiner langen Erfahrung erstaunt. Ich weiß, was Sie für die Carlotta, die Sorelli, die kleine Jammes und einige andere getan haben, deren bewundernswerte Qualitäten, deren Talent und Genie Sie nicht verkannten. – (Sie wissen schon, wen ich damit meine; bestimmt nicht die Carlotta, die aus dem letzten Loch singt und besser in ›Les Ambassadeurs‹ und dem Café Jacquin geblieben wäre; auch nicht die Sorelli, die auf Kutschenfahrten ihre größten Erfolge feiert; auch nicht die kleine Jammes, die wie ein Kalb auf der Weide herumtanzt. Ich meine auch nicht Christine Daaé, deren Genie feststeht, der Sie aber eifersüchtig jede große Rolle vorenthalten.) – Schließlich können Sie ja Ihre Geschäfte führen, wie Sie wollen, nicht wahr? Trotzdem möchte ich von dem glücklichen Umstand, daß Sie Christine Daaé noch nicht vor die Tür gesetzt haben, Gebrauch machen und sie mir heute abend als Siebel anhören, da ihr die Margarete trotz ihres kürzlichen Triumphs versagt bleibt, und deshalb bitte ich Sie, weder heute abend noch an den folgenden Tagen über meine Loge zu verfügen, denn ich muß Ihnen am Ende dieses Briefes gestehen, daß es mich in letzter Zeit höchst unangenehm überraschte, bei meinen Opernbesuchen an der Kasse zu erfahren, daß meine Loge bereits vergeben sei, und zwar auf Ihre ausdrückliche Anordnung hin.

Ich erhob keinen Einspruch, erstens weil ich Skandale hasse, zweitens weil ich annahm, daß Ihre Vorgänger, Monsieur Debienne und Monsieur Poligny, die immer sehr liebenswürdig zu mir waren, es vor ihrem Abschied versäumt hatten, Sie von meinen kleinen Eigenheiten zu unterrichten. Nun antworteten mir Monsieur Debienne und Monsieur Poligny gerade auf meine diesbezügliche Anfrage, und ihre Antwort beweist mir, daß Sie meine Pachtbedingungen kennen, mich also schändlich zum Narren halten. Wenn Sie mit mir in Frieden leben wollen, so nehmen Sie mir vor allem nicht meine Loge weg! Nach diesen kleinen Hinweisen verbleibe ich, mein lieber Direktor, Ihr untertäniger Diener.

Ph. d. O.«

Diesem Brief lag folgende aus der ›Revue théâtrale‹ ausgeschnittene Anzeige bei: »Ph. d. O.: R. und M. sind unentschuldbar. Wir haben sie gewarnt und ihnen Ihre Pachtbedingungen ausgehändigt. Mit besten Empfehlungen!«

Firmin Richard hatte gerade die Lektüre beendet, als sich die Tür seines Arbeitszimmers öffnete und Armand Moncharmin erschien, in der Hand den gleichen Brief, wie ihn sein Kompagnon erhalten hatte. Sie sahen sich an und platzten vor Lachen.

»Der Scherz geht weiter«, sagte Richard, »aber er ist nicht mehr komisch!«

»Was soll das bedeuten«, fragte Moncharmin. »Bilden die sich vielleicht ein, daß wir ihnen eine Loge auf Lebenszeiten überlassen, nur weil sie Direktoren der Oper gewesen sind?«

Denn keiner von beiden zweifelte im geringsten daran, daß es sich bei dem Doppelschreiben um einen gemeinsamen Schabernack ihrer Vorgänger handelte.

»Mein Sinn für Humor ist erschöpft«, erklärte Firmin Richard.

»Ihr Ulk ist doch harmlos«, sagte Armand Moncharmin.

»Was wollen sie eigentlich? Eine Loge für heute abend?«

Firmin Richard beauftragte seinen Sekretär, Debienne und Poligny Karten für die Erste-Rang-Loge Nr. 5 zu schicken, falls diese noch nicht vermietet sei.

Sie war noch frei. Die Karten wurden unverzüglich abgeschickt. Debienne wohnte Ecke Rue Scribe/Boulevard des Capucines, Poligny in der Rue Auber. Die beiden Briefe des Phantoms waren im Postamt auf dem Boulevard des Capucines eingeworfen worden. Das stellte Moncharmin fest, als er die Kuverts genauer betrachtete.

»Da hast du es«, sagte Richard.

Sie zuckten die Achsel und fanden es betrüblich, daß Leute sich noch in diesem Alter auf so kindische Art amüsierten.

»Immerhin hätten sie etwas höflicher sein können«, sagte Moncharmin. »Hast du gemerkt, wie sie uns wegen der Carlotta, der Sorelli und der kleinen Jammes eins auswischen?«

»Was willst du, mein Lieber, diese Leute sind krank vor Eifersucht! … Wenn ich bedenke, daß sie sogar eine Anzeige in der ›Revue théâtrale‹ dafür übrig hatten! … Sie scheinen nichts Gescheiteres zu tun zu haben …«

»Offenbar interessieren sie sich sehr für die kleine Christine Daaé«, sagte Moncharmin.

»Du weißt genauso gut wie ich, daß ihr Ruf untadelig ist«, entgegnete Richard.

»Ein Ruf kann trügen«, erwiderte Moncharmin. »Stehe ich nicht im Ruf, ein Musikkenner zu sein – dabei kann ich nicht einmal einen Violinschlüssel von einem Baßschlüssel unterscheiden.«

»Den Ruf hattest du nie«, erklärte Richard, »sei unbesorgt.«

Dann beauftragte Firmin Richard den Pförtner, die Künstler einzulassen, die seit zwei Stunden im großen Korridor des Verwaltungsgebäudes auf und ab gingen und darauf warteten, daß sich die Tür zum Direktionszimmer öffnete, jene Tür, hinter der ihnen Ruhm und Geld winkte – oder die Entlassung.

Der ganze Tag verlief mit Besprechungen, Verhandlungen, Vertragsabschlüssen oder Vertragsauflösungen; deshalb ist es nicht weiter verwunderlich, daß an jenem Abend – am Abend des 25. Januar – unsere beiden Direktoren erschöpft von Wutausbrüchen, Intrigen, Empfehlungen, Bedrohungen, Liebes- oder Haßbezeigungen früh zu Bett gingen, ohne einen neugierigen Blick in Loge Nr. 5 zu werfen, um nachzusehen, ob die Aufführung Debienne und Poligny gefiel. Die Oper hatte sich seit dem Abschied der alten Direktion keine Pause gegönnt, denn Richard ließ die notwendigen Arbeiten so ausführen, daß der Spielplan nicht unterbrochen zu werden brauchte.

Andernmorgens fanden Richard und Moncharmin unter ihrer Post eine Dankeskarte des Phantoms, auf der stand:

»Mein lieber Direktor,

vielen Dank. Ein erfreulicher Abend. Die Daaé ausgezeichnet. An den Chören noch feilen. La Carlotta herrlich, aber hohl. Schreibe Ihnen demnächst wegen der 240.000 Francs – um genau zu sein 233.424 Francs 70 Centimes, denn Monsieur Debienne und Monsieur Poligny haben mir schon 6.575,30 Francs von meinem Jahresgeld für die ersten zehn Tage überwiesen – ihre Verpflichtungen endeten am Zehnten abends.

Ihr ergebener Diener
Ph.