d. O.«

Außerdem einen Brief von Debienne und Poligny:

»Messieurs,

wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit, aber Sie werden sicherlich verstehen, daß die Aussicht, ›Faust‹ wiederzuhören, so willkommen es uns alten Operndirektoren auch gewesen wäre, uns nicht vergessen lassen konnte, daß wir keinerlei Recht haben, die Erste-Rang-Loge Nr. 5 zu benutzen, die ausschließlieh demjenigen gehört, von dem wir Ihnen erzählt haben, als wir mit Ihnen nochmals den Pachtvertrag durchlassen, und zwar den letzten Absatz von Paragraph 63.

Wir verbleiben … usw.«

»Diese Leute gehen mir allmählich auf die Nerven«, erklärte Firmin Richard wütend und zerriß Debiennes und Polignys Brief. An jenem Abend wurde die Erste-Rang-Loge Nr. 5 vermietet.

Als Richard und Poligny am nächsten Morgen in ihr Arbeitszimmer kamen, fanden sie einen Bericht des Saalordners über die Ereignisse vor, die sich am Vorabend in der Ersten-Rang-Loge Nr. 5 abgespielt hatten. Hier folgt die wichtigste Stelle daraus:

»Ich sah mich heute abend gezwungen« – der Saalordner hatte den Bericht bereits am Vorabend geschrieben – »die Erste-Rang-Loge Nr. 5 zweimal durch einen Polizisten räumen zu lassen, und zwar zu Beginn und in der Mitte des zweiten Aktes. Die Logenbesucher, die erst zu Beginn des zweiten Aktes gekommen waren, verursachten durch ihr Gelächter und ihre albernen Bemerkungen einen richtigen Skandal. Von allen Seiten zischte man ihnen ›psst‹ zu, und im Saal erhoben sich Proteste, so daß die Logenschließerin mich aufsuchte; ich trat in die Loge und gab die notwendigen Ermahnungen. Doch die Leute schienen den Verstand verloren zu haben und überschütteten mich mit dummen Redensarten. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß ich die Loge räumen lassen müßte, falls sich der Skandal wiederholte. Kaum war ich gegangen, als ich erneut ihr Gelächter und die Proteste des Saals hörte. Ich eilte mit einem Polizisten wieder hin, der sie zum Verlassen der Loge nötigte. Daraufhin erklärten sie, immer noch lachend, so lange bleiben zu wollen, bis man ihnen das Eintrittsgeld zurückerstatte. Schließlich beruhigten sie sich, und ich erlaubte ihnen, in die Loge zurückzukehren; doch sogleich setzte dort ihr Gelächter wieder ein, so daß ich sie endgültig hinausweisen ließ.«

»Rufen Sie den Saalordner«, schnauzte Richard seinen Sekretär an, der diesen Bericht als erster gelesen und mit einem Blaustift angekreuzt hatte.

Sekretär Rémy – vierundzwanzig Jahre, schmaler Schnurrbart, elegant, gepflegt, gutangezogen – das heißt im damals obligatorischen Gehrock –, intelligent, dem Direktor gegenüber schüchtern, von diesem mit 2.400 Francs dafür entlohnt, Kritiken zu sammeln, Briefe zu beantworten, Logen und Freikarten zu verteilen, Verabredungen zu treffen, mit den Antichambrierenden zu plaudern, kranke Künstler zu besuchen, Vertreter für sie zu finden, die Verbindung mit den Leitern der verschiedenen Ressorts zu pflegen, doch vor allem der Schlüssel zum Direktionszimmer zu sein, auch auf die Gefahr hin, von einem Tag auf den anderen vor die Tür gesetzt zu werden, da er nicht der Verwaltung untersteht – Sekretär Rémy, der bereits den Saalordner hatte holen lassen, hieß diesen einzutreten.

Der Saalordner kam recht unsicher herein.

»Erzählen Sie, was passiert ist«, fuhr Richard ihn an.

Der Saalordner stammelte etwas und wies auf den Bericht hin.

»Warum haben diese Leute denn gelacht?« fragte Moncharmin.

»Herr Direktor, sie müssen schon ausgiebig diniert haben und mehr zu Scherzen aufgelegt gewesen sein als zum Anhören guter Musik. Gleich nachdem sie die Loge betreten hatten, kamen sie wieder heraus und riefen die Schließerin. Sie sagten zu ihr: ›Sehen Sie einmal in der Loge nach, da ist doch niemand, oder?‹ – ›Nein‹, antwortete die Schließerin. – ›Aber als wir hineingegangen sind‹, behaupteten sie, ›haben wir eine Stimme gehört, die sagte, es sei schon jemand da.‹«

Moncharmin konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als er Richard anschaute, dem es aber keineswegs zum Lachen zumute war. Er hatte das schon zu oft mitgemacht, um in dem naiven Bericht des Saalordners nicht alle Anzeichen für einen jener bösen Streiche zu erkennen, die anfangs die Betroffenen amüsierten, sie dann freilich in Wut bringen.

Der Saalordner, der sich bei dem lächelnden Moncharmin einschmeicheln wollte, hielt es für seine Pflicht, ebenfalls zu lächeln. Unseliges Lächeln! Wie der Blitz traf Richards Blick den Angestellten, der sofort eine niedergeschmetterte Miene aufsetzte.

»War nun, als die Leute kamen«, fragte Richard donnernd, »jemand in der Loge oder nicht?«

»Nein, niemand, Herr Direktor, niemand! Weder in der rechten noch in der linken Loge, das schwöre ich Ihnen! Dafür lege ich meine Hand ins Feuer! Und das beweist, daß es nur ein Scherz war!«

»Und was hat die Schließerin gesagt?«

»Ach, die Schließerin sagte nur, das sei das Phantom der Oper.«

Der Saalordner kicherte. Aber auch diesmal mußte er erkennen, daß sein Kichern fehl am Platz war, denn nach seinen letzten Worten wurde Richards bereits finsteres Gesicht geradezu grimmig.

»Die Schließerin soll kommen«, befahl er. »Unverzüglich! Holt sie her! Und setzt die Leute dort vor die Tür!«

Der Saalordner wollte noch etwas einwenden, aber Richard brachte ihn mit einem markerschütternden »Halten Sie die Klappe!« zum Schweigen. Als dann die Lippen des Unglücklichen für immer versiegelt zu sein schienen, befahl ihm der Direktor, den Mund wieder aufzumachen.

»Was ist denn das ›Phantom der Oper‹?« fragte er brummend.

Aber dem Saalordner hatte es die Sprache verschlagen. Durch verzweifelte Mimik gab er zu verstehen, daß er nichts davon wisse oder genauer nichts davon wissen wolle.

»Haben Sie das Phantom der Oper schon gesehen?«

Der Saalordner schüttelte heftig den Kopf.

»Desto schlimmer«, erklärte Richard eisig.

Der Saalordner riß die Augen so weit auf, daß sie aus den Höhlen zu quellen drohten, um zu fragen, was der Herr Direktor mit diesem unheilvollen ›Desto schlimmer‹ meine.

»Ich werde«, erklärte Richard, »alle diejenigen entlassen, die es nicht gesehen haben. Denn da es überall ist, kann ich es nicht länger dulden, daß man es nirgends sieht. Mir sind nur Angestellte lieb, die ihre Augen offenhalten!«

5. Kapitel

Die Loge Nr. 5 (Fortsetzung)

Nach diesen Worten kümmerte sich Richard überhaupt nicht mehr um den Saalordner, sondern besprach verschiedene Angelegenheiten mit seinem Verwalter, der hereingekommen war. Der Saalordner meinte, gehen zu dürfen, und schlich leise, ganz leise zur Tür, als Richard sein Manöver bemerkte und ihn mit dröhnender Stimme festnagelte: »Rühren Sie sich nicht von der Stelle!«

Auf Rémys Veranlassung hin hatte man die Logenschließerin geholt, die Concierge in der Rue de Provence war, nur zwei Schritte von der Oper entfernt. Sie erschien bald.

»Wie heißen Sie?«

»Madame Giry.