Madame Krauss erntete riesigen Beifall. Sie hatte gerade die Glanznummer aus dem zweiten Akt gesungen, Sie wissen schon (Madame Giry singt halblaut):

›Ach, wie bebt mein beklommen Herz!
Eine dunkle traurige Ahnung
Erfüllt die Seele mir als Mahnung
Mit der Reue heimlichem Schmerz …‹«

»Schon gut, schon gut, ich kenne es«, sagt Moncharmin mit entmutigendem Lächeln.

Aber Madame Giry singt unbeirrt weiter, wobei die Federn auf ihrem nußbraunen Hut wackeln:

»Treuvereint beachten wir kein Gebot,
Keine Macht trennt uns mehr, nur der Tod!«

»Ja, ja, wir kennen es«, wiederholt Richard ungehalten. »Und dann? Na, und dann?«

»Dann kommt der Augenblick, in dem Leopold ruft: ›Laß uns fliehen!‹, nicht wahr? – und Eléarzar sich ihnen in den Weg stellt und sie fragt: ›Wo hin eilet Ihr?‹ In diesem Augenblick nun richtete sich Monsieur Poligny, den ich aus der leeren Loge neben seiner beobachtete, kerzengerade auf und schritt starr wie eine Statue hinaus, während ich ihn nur noch wie Eléarzar fragen konnte: ›Wohin eilet Ihr?‹ Aber er antwortete mir nicht und war leichenblaß! Ich sah, wie er die Treppe hinunterging, aber er brach sich dabei kein Bein … Trotzdem bewegte er sich wie im Traum, wie in einem Alptraum, und irrte durch die Oper, die er doch besser als jeder andere kennen mußte, denn dafür wurde er ja schließlich bezahlt!«

So drückte sich Madame Giry aus und wartete auf den Effekt ihrer Worte. Über Polignys Geschichte schüttelte Moncharmin den Kopf.

»Das alles erklärt mir noch immer nicht, unter welchen Umständen das Phantom der Oper Sie um den Schemel gebeten hat«, ließ er nicht locker und blickte dabei Madame Giry streng an.

»Aber seit diesem Abend … eben seit diesem Abend hat man doch unser Phantom in Ruhe gelassen … hat man nicht mehr versucht, ihm seine Loge streitig zu machen. Monsieur Debienne und Monsieur Poligny gaben Anweisungen, sie bei allen Aufführungen ihm zur Verfügung zu stellen. Wenn es dann kam, bat es mich um den Schemel …«

»Ei, ei, ein Phantom, das um einen Schemel bittet? Ist Ihr Phantom demnach eine Frau«, fragte Moncharmin.

»Nein, das Phantom ist ein Mann.«

»Woher wissen Sie das?«

»Es hat eine Männerstimme, ach, eine freundliche Männerstimme! Es verhält sich so: wenn es die Oper besucht, kommt es gewöhnlich in der Mitte des ersten Akts und klopft dreimal kurz an die Tür der Loge Nr. 5. Sie können sich vorstellen, wie verblüfft ich war, als ich die drei leisen Schläge zum ersten Mal hörte, da ich ja genau wußte, daß noch niemand in der Loge war! Ich machte die Tür auf, horchte, schaute hinein: kein Mensch! Und dann hörte ich eine Stimme, die zu mir sagte: ›Madame Jules‹, – das ist der Name meines verstorbenen Mannes – ›können Sie mir bitte einen Schemel bringen?‹ Das, Messieurs, warf mich – mit Verlaub – beinahe um … Aber die Stimme fuhr fort: ›Fürchten Sie sich nicht, Madame Jules, ich bin das Phantom der Oper!‹ Ich starrte die Stelle an, von der die Stimme kam, die übrigens so gütig, so ›einnehmend‹ klang, daß sie mir kaum noch Angst einflößte. Die Stimme, Messieurs, saß im Fauteuil der ersten Reibe ganz rechts. Obwohl ich niemand in dem Fauteuil sah, hätte ich schwören können, daß dort jemand saß, der redete, und zwar ein außerordentlich höflicher Jemand!«

»War die Loge rechts neben Loge Nr. 5 besetzt«, fragte Moncharmin.

»Nein, weder Loge Nr. 7 noch Loge Nr. 3 links daneben waren bis dahin besetzt. Die Oper fing ja gerade erst an.«

»Und was haben Sie getan?«

»Ich habe natürlich den Schemel gebracht. Offenbar war er nicht für ihn bestimmt, sondern für seine Begleiterin. Aber die habe ich nie gesehen oder gehört …«

Was? Jetzt hatte das Phantom sogar eine Frau! Moncharmins und Richards Blicke wanderten von Madame Giry zu dem Saalordner, der hinter der Logenschließerin mit den Armen fuchtelte, um die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich zu lenken. Er klopfte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, um den Direktoren zu bedeuten, daß Mama Jules bestimmt verrückt sei, eine Pantomime, die Richard endgültig dazu bewog, sich von einem Saalordner zu trennen, der eine Irre in seinen Diensten behielt. Die brave Frau rühmte jetzt die Großzügigkeit des Phantoms.

»Nach der Aufführung gibt es mir immer zwei Francs, manchmal auch fünf Francs, und wenn es ein paar Tage nicht da war sogar zehn Francs. Aber seit man es wieder belästigt, gibt es mir überhaupt nichts mehr …«

»Verzeihen Sie, meine Liebe … (Empörtes Schütteln der Federn auf dem nußbraunen Hut angesichts solcher Familiarität) Verzeihen Sie … aber wie gibt Ihnen das Phantom die zwei Francs?« fragte Moncharmin.

»Ach, die legt es auf das Tischchen in der Loge. Dort finde ich sie mit dem Programm, das ich ihm immer bringe. An manchen Abenden finde ich sogar Blumen in der Loge, eine Rose, die sicher aus dem Ansteckbukett seiner Begleiterin gefallen ist … Denn bestimmt kommt er manchmal mit einer Dame … einmal haben sie nämlich einen Fächer liegenlassen.«

»So? Das Phantom hat einen Fächer liegenlassen? Was haben Sie damit gemacht?«

»Ich habe ihn am nächsten Abend wieder hingelegt.«

Da erhob der Saalordner seine Stimme:

»Das verstößt gegen die Vorschriften, Madame Giry. Dafür müssen Sie eine Geldstrafe entrichten!«

»Schweigen Sie doch, Sie Trottel!« (Firmin Richards Baßstimme.)

»Sie haben also den Fächer wieder hingelegt? Und dann?«

»Dann haben sie ihn mitgenommen, Monsieur. Am Ende der Vorstellung habe ich ihn nicht mehr entdeckt, dafür aber eine Schachtel Pralinen, die ich besonders gern esse, Monsieur. Eine der vielen Aufmerksamkeiten des Phantoms …«

»Nun gut, Madame Giry … Sie können jetzt gehen.«

Nachdem Madame Giry sich ehrerbietig, wenn auch nicht ohne einen gewissen Stolz, den sie immer beibehielt, von den beiden Direktoren verabschiedet hatte, erklärten diese dem Saalordner, sie hätten sich entschlossen, künftig auf die Dienste dieser alten Irren zu verzichten, und schickten ihn hinaus.

Nachdem sich der Saalordner unter Bekundung seiner Ergebenheit zurückgezogen hatte, beauftragten die Direktoren den Verwalter, den Saalordner zu entlassen. Als die Direktoren allein waren, hatten sie beide den gleichen Gedanken, nämlich die Loge Nr. 5 einmal zu inspizieren.

Wir wollen ihnen zu gegebener Zeit dorthin folgen.

6. Kapitel

Die Zaubergeige

Für Christine Daaé, die, wie wir später sehen werden, Intrigen zum Opfer fiel, wiederholte sich an der Oper nicht so bald der Triumph, den sie an dem berühmten Galaabend gefeiert hatte. Immerhin bot sich ihr seitdem Gelegenheit, in der Stadt bei der Duchesse de Zurich aufzutreten, wo sie die schönsten Nummern aus ihrem Repertoire sang. Der große Kritiker S. der sich unter den erlesenen Gästen befand, schreibt über sie:

»Wenn man sie in ›Hamlet‹ hört, fragt man sich, ob Shakespeare nicht aus dem Elysium herbeigeeilt sei, um mit ihr die Ophelia zu proben … Wenn sie das Sternendiadem der Königin der Nacht trägt, müßte Mozart eigentlich die Gefilde der Seligen verlassen, um sie sich anzuhören. Aber er braucht sich nicht herabzubemühen, denn die schmetternde Stimme, mit der sie seine ›Zauberflöte‹ wundervoll interpretiert, schwingt sich ebenso mühelos zu ihm in den Himmel hinaus, wie ihre Besitzerin die ärmliche Hütte in Skotelof mit dem mit Garniers aus Gold und Marmor erbauten Palast zu vertauschen verstand.«

Aber nach dem Abend bei der Duchesse de Zurich sang Christine nicht mehr in der Öffentlichkeit.