Sie kennen mich doch, Herr Direktor. Ich bin die Mutter der kleinen Giry, der kleinen Meg!«

Ihr grober und zugleich feierlicher Ton beeindruckte Richard einen Augenblick. Er musterte Madame Giry – verschossener Shawl, abgetretene Schuhe, altes Taftkleid, nußbrauner Hut. Aus der Haltung des Direktors ließ sich deutlich ablesen, daß er weder Madame Giry noch die kleine Giry, ja nicht einmal ›die kleine Meg‹ kannte oder sich an sie erinnerte. Doch Madame Girys Stolz war so groß, daß diese berühmte Logenschließerin sich einfach nicht vorstellen konnte, irgend jemandem unbekannt zu sein.

»Ich kenne Sie nicht«, erklärte der Direktor schließlich. »Was mich aber nicht davon abhält, Sie zu fragen, welcher Vorfall Sie und den Saalordner gestern abend dazu veranlaßt hat, einen Polizisten um Hilfe zu bitten …«

»Deswegen wollte ich Sie gerade aufsuchen, Herr Direktor, nur damit Sie nicht die gleichen Scherereien haben wie Monsieur Debienne und Monsieur Poligny … Die wollten zuerst auch nicht auf mich hören …«

»Danach habe ich Sie nicht gefragt. Ich habe Sie gefragt, was gestern abend geschehen ist!«

Madame Giry wurde rot vor Entrüstung. So hatte man noch nie mit ihr gesprochen. Sie erhob sich, um zu gehen, wobei sie ihren Rock raffte und die Federn auf ihrem nußbraunen Hut würdevoll schüttelte, änderte aber ihre Meinung, setzte sich wieder und sagte herablassend:

»Man hat wieder einmal das Phantom belästigt!«

Als Richard daraufhin aufbrausen wollte, griff Moncharmin ein und führte das Verhör, aus dem hervorging, daß Madame Giry es ganz natürlich fand, eine Stimme in einer Loge, in der niemand war, sagen zu hören, es sei schon jemand da. Sie könne sich dieses Phänomen, das ihr keineswegs neu sei, nur durch die Einmischung des Phantoms erklären. Zwar habe noch nie jemand dieses Phantom in der Loge gesehen, aber jeder könne es hören. Sie habe es schon oft gehört, und das müsse man ihr glauben, denn sie lüge nie. Man könne ja Monsieur Debienne und Monsieur Poligny und alle fragen, die sie kannten, auch Monsieur Isidore Saack, dem das Phantom das Bein gebrochen habe!

»Wie?« unterbrach Moncharmin sie. »Das Phantom hat diesem armen Isidore Saack das Bein gebrochen?«

Madame Giry sperrte die Augen auf, in denen sich ihr Erstaunen über solche Unwissenheit widerspiegelte. Schließlich ließ sie sich herab, die beiden bedauernswerten Toren aufzuklären. Der Vorfall habe sich zu Monsieur Debiennes und Monsieur Polignys Zeit zugetragen, ebenfalls in Loge Nr. 5 und auch während einer Aufführung von ›Faust‹.

Madame Giry räuspert sich, prüft ihre Stimme und setzt – man hätte meinen können zum Vortrag der gesamten Partitur Gounods – ein:

»Also, Messieurs, an jenem Abend saß Monsieur Maniera, der Edelsteinhändler aus der Rue Mogador, mit seiner Gattin in der Ersten-Rangloge, und hinter Madame Maniera saß Monsieur Isidore Saack, ihr Hausfreund. Mephisto sang gerade (Madame Giry singt): ›Scheinst zu schlafen, du im Stübchen‹, da hört Monsieur Maniera in seinem rechten Ohr – seine Gattin saß links von ihm – eine Stimme, die ihm zuflüstert: ›O, o, Julie scheint nicht zu schlafen!‹ – Seine Gattin hieß nämlich Julie. – Monsieur Maniera wendet sich nach rechts, um festzustellen, wer ihm das zugeflüstert hat. Aber er sieht keinen Menschen! Er reibt sich das Ohr und sagt sich im stillen: ›Träume ich?‹ Daraufhin singt Mephisto seine Arie weiter … Aber ich langweile Sie vielleicht, Messieurs?«

»Nein, nein, fahren Sie fort …«

»Messieurs sind zu gütig! (Madame Giry zieht eine Grimasse.) Mephisto sang also seine Arie weiter (Madame Giry singt): ›Ach, du spottest meiner Klagen, schmerzlicher Verdruß! Willst dem Liebsten du versagen einen süßen Kuß?‹ Da hört Monsieur Maniera immer noch in seinem rechten Ohr die Stimme, die ihm zuflüstert: ›O, o, Julie versagt Isidore keinen Kuß!‹ Daraufhin wendet er sich diesmal nach links, zu seiner Gattin und zu Isidore – und was sieht er da? Isidore hatte von hinten die Hand seiner Gattin ergriffen und bedeckte sie mit Küssen in den Schlitz ihres Handschuhs … so, Messieurs. (Madame Giry bedeckt das von ihrem Flockenseidenhandschuh freigelassene Stückchen Haut mit Küssen.) Wie Sie sich vorstellen können, kam es zum Krach. Klitsch! Klatsch! Monsieur Maniera, der so groß und kräftig war wie Sie, Monsieur Richard, ohrfeigte Monsieur Isidore Saack rechts und links, der so klein und schmächtig war wie – mit Verlaub – Sie, Monsieur Moncharmin. Es war ein richtiger Skandal. Im Saal rief man: ›Aufhören! Aufhören! … Er bringt ihn um!‹ Schließlich gelang es Monsieur Isidore Saack zu entwischen …«

»Demnach hat ihm doch das Phantom gar nicht das Bein gebrochen«, fragte Moncharmin, verstimmt darüber, daß sein Äußeres so wenig Eindruck auf Madame Giry gemacht hat.

»Es hat es ihm gebrochen, Monsieur«, erwidert Madame Giry von oben herab, denn sie durchschaut seine kränkende Absicht. »Es hat es ihm klipp und klar auf der großen Treppe gebrochen, die er zu hastig hinuntereilte, Monsieur! Und zwar so gründlich, daß der Arme sie so bald nicht wieder hinaufsteigen kann!«

»Hat Ihnen das Phantom das persönlich erzählt, was es Monsieur Maniera ins rechte Ohr flüsterte?« fragt Untersuchungsrichter Moncharmin mit einem Ernst, den er für komisch hält.

»Nein, Monsieur! Sondern Monsieur Maniera. Daher …«

»Aber Sie haben doch schon mit dem Phantom gesprochen, Madame?«

»So wie mit Ihnen, Monsieur …«

»Und was sagt das Phantom, wenn es mit Ihnen spricht?«

»Nun, es bittet mich, ihm einen Schemel zu bringen!«

Bei diesen feierlich gesprochenen Worten wird Madame Girys Gesicht zu Marmor, zu gelbem, rotgeädertem Marmor wie der, aus dem die Stützpfeiler der großen Treppe sind und der sarrankolischer Marmor genannt wird.

Diesmal bricht Richard mit Moncharmin und Sekretär Rémy in Lachen aus, aber der aus Schaden kluggewordene Saalordner lacht nicht mit. Er lehnt an der Wand und fragt sich, während er fieberhaft an den Schlüsseln in seiner Tasche herumfummelt, wann die Geschichte endlich aus sei. Je herablassender Madame Girys Ton wird, desto mehr fürchtet er das erneute Aufbrausen des Direktors. Und jetzt wagt es Madame Giry sogar angesichts der direktorialen Heiterkeit tatsächlich zu drohen!

»Statt über das Phantom zu lachen«, ruft sie empört, »sollten Sie lieber Monsieur Polignys Beispiel folgen, der sich selbst davon überzeugt hat …«

»Wovon überzeugt?« fragt Moncharmin, der sich noch nie so gut amüsiert hat.

»Von dem Phantom! … Ich sage Ihnen doch … Also! … (Sie beruhigt sich plötzlich, denn sie erkennt den Ernst der Stunde.) Ich erinnere mich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Diesmal wurde ›Die Jüdin‹ gespielt. Monsieur Poligny wollte sich die Aufführung ganz allein in der Loge des Phantoms ansehen.