Auch diesmal in Perros, und diese Begegnung prägte sich Raoul fürs Leben ein. Professor Valerius war gestorben, aber Mama Valerius blieb in Frankreich, wo ihre Interessen sie mit dem alten Daaé und seiner Tochter zurückhielten, die weiterhin Geige spielten und sangen und dabei ihre geliebte Gönnerin in ihren melodiösen Traum einbezogen, so daß auch sie nur noch von der Musik zu leben schien. Der junge Mann kam aufs Geratewohl nach Perros und ging auf gut Glück in das Haus, in dem seine kleine Freundin früher gewohnt hatte. Er erblickte erst den alten Daaé, der sich mit Tränen in den Augen erhob, ihn umarmte und ihm sagte, sie hätten ihn stets in guter Erinnerung bewahrt. Es sei kaum ein Tag verstrichen, an dem Christine nicht von ihm, Raoul, gesprochen habe. Der Greis redete noch, als sich die Tür öffnete und das junge Mädchen mit anmutiger Geschäftigkeit eine dampfende Teekanne auf einem Tablett hereinbrachte. Sie erkannte Raoul und setzte das Tablett ab. Leichte Röte überzog ihr charmantes Gesicht. Sie zauderte stumm. Ihr Papa betrachtete die beiden. Raoul trat auf Christine zu und gab ihr einen Kuß, dem sie nicht auswich. Sie stellte ihm ein paar Fragen, erledigte ihre Pflicht als Gastgeberin, nahm das Tablett wieder auf und verließ das Zimmer. Dann flüchtete sie zu einer Bank im einsamen Garten. In ihr regten sich Gefühle, die ihr Jungmädchenherz schneller schlagen ließen. Raoul gesellte sich zu ihr, und sie plauderten bis zum Abend verlegen miteinander. Sie hatten sich völlig verwandelt, kannten sich nicht wieder und fanden sich gegenseitig doch sehr wichtig. Sie unterhielten sich vorsichtig wie Diplomaten und erzählten sich nur Dinge, die nichts mit ihren erwachenden Empfindungen zu tun hatten. Beim Abschied am Straßenrand sagte Raoul zu Christine, wobei er ihre zitternde Hand ganz korrekt küßte: »Mademoiselle, ich werde Sie nie vergessen!« Als er ging, bedauerte er seine kühnen Worte, denn er wußte genau, daß Christine Daaé niemals die Frau des Vicomte de Chagny werden könnte.
Als Christine zu ihrem Vater zurückkehrte, sagte sie: »Findest du nicht, daß Raoul nicht mehr so nett ist wie früher? Ich liebe ihn nicht mehr!« Sie versuchte, nicht mehr an ihn zu denken. Es fiel ihr schwer, und sie vertiefte sich wieder ganz in ihre Kunst. Sie machte erstaunliche Fortschritte. Diejenigen, die ihr zuhörten, prophezeiten, daß sie es zur größten Sängerin der Welt bringen werde. Indessen starb ihr Vater, und sie schien mit ihm ihre Stimme, ihre Seele und ihr Genie verloren zu haben. Trotzdem verblieb ihr davon gerade noch genug, um das Konservatorium zu besuchen. Dort zeichnete sie sich keineswegs aus, nahm ohne Begeisterung am Unterricht teil und erwarb einen Preis, um der alten Mama Valerius, mit der sie weiterhin zusammenlebte, eine Freude zu bereiten. Als Raoul Christine zum ersten Mal in der Oper wiedersah, bezauberte ihn zwar ihre Schönheit, indem sie traute Bilder von einst heraufbeschwor, aber gleichzeitig wunderte er sich über den Stillstand ihrer Kunst. Christine schien von allem losgelöst zu sein. Er hörte sie sich immer wieder an. Er folgte ihr in die Kulissen. Er wartete hinter einem Bühnengerüst auf sie. Er versuchte ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
1 comment