Der kleine Junge stürzte sich angezogen, wie er war, ins Wasser und brachte ihr die Schärpe zurück. Der kleine Junge und die Schärpe trieften erbärmlich! Die Matrone in Schwarz konnte sich nicht darüber beruhigen, aber Christine lachte aus vollem Hals und umarmte den kleinen Jungen. Es war Vicomte Raoul de Chagny. Er wohnte damals bei seiner Tante in Lannion. Während der Saison trafen Christine und Raoul sich fast täglich zum Spielen. Auf die Bitte der Tante hin und durch Professor Valerius' Vermittlung erklärte sich der alte Daaé bereit, dem jungen Vicomte Geigenstunden zu geben. So lernte Raoul dieselben Weisen lieben, die Christines Kindheit verzaubert hatten.

Beide hatten ungefähr das gleiche verträumte und stille Gemüt. Gefallen fanden sie eigentlich nur an Geschichten, an den alten bretonischen Märchen, und ihr liebstes Spiel war, wie Bettler von Tür zu Tür zu gehen und darum zu bitten. »Madame oder Monsieur, können Sie uns bitte eine Geschichte erzählen?« Nur selten ›gab‹ man ihnen nichts. Welche bretonische Großmutter hat nicht wenigstens einmal in ihrem Leben die Korrigane im Mondschein über die Heide tanzen sehen?

Aber am meisten freuten sie sich, wenn sich Vater Daaé in der friedlichen Abenddämmerung nach Sonnenuntergang neben sie an den Straßenrand setzte und ihnen leise, als fürchtete er, den Geistern, die er heraufbeschwor, Angst einzujagen, die schönen erbaulichen oder schrecklichen nordländischen Sagen erzählte. Einmal stimmten sie froh wie Andersens Märchen, ein andermal traurig wie die Lieder des großen Dichters Runeberg. Wenn Vater Daaé verstummte, sagten beide Kinder: »Weiter! Weiter!«

Es gab eine Geschichte, die fing an:

»Ein König saß in einem Kahn auf einem jener stillen und tiefen Gewässer, die sich mitten in den Bergen Norwegens wie ein strahlendes Auge öffnen …«

Und eine andere:

»Die kleine Lotte dachte an alles und an nichts. Wie ein Zugvogel schwebte sie auf den goldenen Sonnenstrahlen und trug ihren Frühlingskranz auf den blonden Locken. Ihre Seele war so klar und blau wie ihr Blick. Sie verhätschelte ihre Mutter, war ihrer Puppe treu, achtete sorgsam auf ihr Kleid, ihre roten Schuhe und auf ihre Geige, aber sie liebte über alles, beim Einschlafen dem Engel der Musik zu lauschen.«

Während der alte Mann solche Dinge erzählte, betrachtete Raoul Christines blaue Augen und ihr goldenes Haar. Und Christine dachte, wie glücklich die kleine Lotte sein mußte, wenn sie beim Einschlafen dem Engel der Musik lauschte. In fast allen Geschichten Vater Daaés kam der Engel der Musik vor, und die Kinder fragten ihn endlos über diesen Engel aus. Vater Daaé behauptete, daß der Engel der Musik alle großen Musiker, alle großen Sänger mindestens einmal in ihrem Leben besuche. Manchmal beuge sich dieser Engel über ihre Wiege, wie bei der kleinen Lotte, und deshalb gebe es Wunderkinder, die schon mit sechs Jahren besser Geige spielten als fünfzigjährige Männer, was – ›das müßt ihr zugeben‹ – wirklich erstaunlich sei. Manchmal komme der Engel wesentlich später, weil die Kinder nicht artig seien und nicht fleißig übten und ihre Tonleitern nicht lernten. Manchmal komme der Engel nie, weil man kein reines Herz und kein gutes Gewissen habe. Man sehe den Engel nie, aber er tue sich den Auserwählten kund. Oft in Augenblicken, da sie es am wenigsten erwarteten, wenn sie traurig oder niedergeschlagen seien. Dann höre das Ohr plötzlich himmlische Harmonien, eine göttliche Stimme, und man erinnere sich sein Lebtag daran. Diejenigen, die der Engel besucht habe, seien dann Feuer und Flamme. Es fahre ein Schauer durch sie, der den anderen Sterblichen unbekannt sei. Es werde ihnen das Vorrecht verliehen, kein Instrument mehr ergreifen oder den Mund nicht mehr zum Singen aufmachen zu können, ohne Klänge zu hören, die durch ihre Schönheit alle anderen menschlichen Klänge in den Schatten stellten. Die Leute, die nicht wüßten, daß der Engel jene Menschen besucht habe, sagten dann von ihnen, sie hätten Genie.

Die kleine Christine fragte ihren Papa, ob er schon den Engel gehört habe. Aber Vater Daaé schüttelte traurig den Kopf, dann betrachtete er aber seine Tochter strahlend und sagte:

»Du, mein Kind, wirst ihn eines Tages hören. Wenn ich in den Himmel komme, schicke ich ihn zu dir, das schwöre ich dir.«

Damals begann Vater Daaé zu husten.

Der Herbst trennte Raoul und Christine.

Drei Jahre später trafen sie sich als junge Menschen wieder.