Dann traten aber Schlag auf Schlag so merkwürdige und unerklärliche Ereignisse ein, daß sogar die Vernünftigsten sich darüber den Kopf zu zerbrechen begannen.

Ein Feuerwehrhauptmann ist tapfer! Der fürchtet sich vor nichts, bestimmt nicht vor dem Feuer!

Besagter Feuerwehrhauptmann{2} inspizierte nun die ›Versenkungen‹ und wagte sich offenbar etwas weiter vor als sonst, als er plötzlich wieder bleich, entsetzt, zitternd, mit hervorquellenden Augen auf der Bühne auftauchte und einer Ohnmacht nahe in die Arme der braven Mutter der kleinen Jammes sank. Und warum? Weil er in Kopfhöhe, aber ohne Körper, ein Flammengesicht auf sich hatte zukommen sehen! Und ich wiederhole: ein Feuerwehrhauptmann, der sich bestimmt nicht vor dem Feuer fürchtet.

Dieser Feuerwehrhauptmann hieß Papin.

Das Corps de ballet war entgeistert. Erst einmal entsprach das Flammengesicht keineswegs der Beschreibung, die Joseph Buquet von dem Phantom gegeben hatte. Man horchte den Feuerwehrhauptmann aus, man bestürmte den Maschinenmeister erneut mit Fragen, bis die Balletteusen zu dem Schluß kamen, daß das Phantom mehrere Köpfe hatte, die es nach Belieben auswechselte. Natürlich bildeten sie sich unverzüglich ein, in großer Gefahr zu schweben. Nachdem ein Feuerwehrhauptmann es nicht unter seiner Würde fand, ohnmächtig zu werden, konnten Ballerinen und Ballettratten guten Gewissens Entschuldigungen dafür anführen, wenn sie voller Angst auf Zehenspitzen an irgendeinem dunklen Loch in einem schlechtbeleuchteten Korridor vorbeischlichen.

Um das Gebäude möglichst vor solchen schrecklichen Heimsuchungen zu schützen, ging die Sorelli höchstpersönlich so weit, in Begleitung sämtlicher Tänzerinnen und sogar des ganzen trikottragenden Kinderschwarms aus den Anfängerklassen am Tage nach dem Erlebnis des Feuerwehrhauptmanns eigenhändig ein Hufeisen auf den Tisch zu legen, der in dem Vestibül auf der Seite des Verwaltungshofes steht, ein Hufeisen, das jeder Befugte – also alle außer den Zuschauern –, der die Oper betrat, berühren sollte, ehe er den Fuß auf die erste Treppenstufe setzte. Sonst drohte er Beute der okkulten Mächte zu werden, die sich des Gebäudes vom Keller bis zum Dachboden bemächtigt hatten.

Dieses Hufeisen ist übrigens – wie leider die ganze Geschichte – kein Produkt meiner blühenden Phantasie, sondern man kann es heute noch auf dem Tisch in dem Vestibül vor der Portierloge liegen sehen, wenn man die Oper vom Verwaltungshof aus betritt.

Daraus kann man sich leicht ein Bild von der Gemütsverfassung der Balletteusen an jenem Abend machen, an dem wir mit ihnen in die Garderobe der Sorelli eindrangen.

»Es ist das Phantom!« hatte die kleine Jammes ausgerufen.

Inzwischen war die Unruhe der Tänzerinnen gewachsen. Jetzt herrschte bedrückendes Schweigen in der Garderobe. Man hörte nur noch ihren keuchenden Atem. Schließlich stürzte die Jammes mit dem Ausdruck echten Entsetzens in die äußerste Ecke und murmelte ein einziges Wort:

»Horcht!«

Tatsächlich glaubten alle, ein Rascheln hinter der Tür zu hören. Keine Schritte. Man hätte meinen können, daß feine Seide die Füllung streifte. Dann nichts mehr. Die Sorelli versuchte, sich weniger furchtsam zu zeigen als ihre Gefährtinnen. Sie trat zur Tür und fragte mit tonloser Stimme:

»Wer ist da?«

Aber niemand antwortete ihr.

Da sie spürte, daß die Augen aller ihre kleinste Bewegung beobachteten, zwang sie sich zur Tapferkeit und sagte laut:

»Ist da jemand hinter der Tür?«

»Ach! Ach! Bestimmt ist jemand hinter der Tür«, wiederholte die spindeldürre Meg Giry, die heroisch die Sorelli an ihrem Tüllrock zurückzerrte. »Machen Sie nur nicht auf! Mein Gott, machen Sie nicht auf!«

Aber die Sorelli hatte, mit einem Stilett bewaffnet, das sie immer bei sich trug, den Mut, den Schlüssel umzudrehen und die Tür zu öffnen, während sich die Tänzerinnen ins Badezimmer zurückzogen und Meg Giry seufzte:

»Mama! Mama!«

Beherzt musterte die Sorelli den Korridor. Er war verlassen; ein Schmetterlingsbrenner warf aus einem Glaskäfig einen rötlichen matten Schein in die Finsternis, ohne daß es ihm gelang, diese zu verscheuchen. Die Ballerina schloß hastig die Tür und atmete erleichtert auf.

»Nein«, sagte sie, »es ist niemand da!«

»Und trotzdem haben wir es gesehen!« behauptete die Jammes nochmals, während sie mit ängstlichen Schrittchen wieder ihren Platz neben der Sorelli einnahm. »Es muß dort irgendwo herumstreifen. Ich gehe bestimmt nicht zurück, um mich umzuziehen. Wir sollten alle zusammen zur Abschiedsfeier ins Foyer hinuntergehen und danach auch wieder zusammen heraufkommen.«

Alsdann berührte die Kleine fromm das Korallenamulett, das sie vor Unheil bewahren sollte. Und die Sorelli schlug heimlich mit dem rosa Fingernagel ihres rechten Daumens ein Andreaskreuz auf dem Holzreif an ihrem linken Ringfinger.

»Die Sorelli«, schrieb ein berühmter Journalist, »ist eine große, schöne Tänzerin mit ernstem, sinnlichem Gesicht und mit einer wie eine Weidengerte biegsamen Taille; sie wird im allgemeinen als ›schönes Geschöpf‹ bezeichnet. Ihr goldblondes Haar krönt eine Alabasterstirn, unter der die Augenhöhlen zwei Smaragde einfassen. Ihr Kopf wiegt anmutig wie ein Silberreiher auf einem langen, eleganten, stolzen Hals. Beim Tanzen macht sie eine gewisse unbeschreibliche Bewegung mit den Hüften, die ihren ganzen Körper vor unaussprechlichem Verlangen erschaudern läßt. Wenn sie die Arme hebt und sich nach vorne neigt, um zu einer Pirouette anzusetzen, wobei sich die Linien des Mieders deutlich abzeichnen und die Hüften dieser köstlichen Frau hervorspringen, vermeint man ein Bild vor sich zu haben, bei dessen Anblick man den Verstand verliert.«

Was den Verstand betrifft, so schien sie keinen nennenswerten zu haben, woraus ihr niemand einen Vorwurf machte.

Sie sagte zu den Balletteusen:

»Kinder, ihr müßt euch jetzt wieder ›fassen‹! … Vielleicht hat in Wirklichkeit noch keiner das Phantom gesehen!«

»Doch! Doch! Wir haben es gesehen! … Wir haben es vorhin gesehen!« fingen die Kleinen von vorne an. »Es hatte einen Totenkopf und trug einen Frack, genau wie am Abend, an dem es Joseph Buquet erschien!«

»Auch Gabriel hat es gesehen«, sagte die Jammes. »Erst gestern! Gestern nachmittag … am hellichten Tage.«

»Gabriel, der Gesangslehrer?«

»Ja, der … Was, das wissen Sie noch nicht?«

»Am hellichten Tage im Frack?«

»Wer? Gabriel?«

»Aber nein. Das Phantom!«

»Natürlich trug es seinen Frack«, bestätigte die Jammes. »Gabriel hat es mir selbst erzählt.