Daran hat er es ja gerade erkannt. Und zwar ist das so passiert: Gabriel befand sich im Büro des Regisseurs. Plötzlich ging die Tür auf, und der Perser kam herein. Ihr wißt schon, der Perser mit dem ›bösen Blick‹!«
»Und ob!« erwiderten die Balletteusen im Chor, die, sobald das Bild des Persers heraufbeschworen wurde, das Zeichen gegen den bösen Blick machten, indem sie Zeige- und kleinen Finger ausstreckten, während der Daumen, Mittel- und Ringfinger auf die Handfläche drückte.
»Obwohl Gabriel abergläubisch ist«, fuhr die Jammes fort, »bleibt er doch immer höflich, und wenn er den Perser sieht, begnügt er sich damit, gelassen die Hand in die Tasche zu stecken und seine Schlüssel zu berühren … Als nun die Tür aufging und der Perser erschien, machte Gabriel nur einen Satz von seinem Sessel zum Schloß des Schrankes, um Eisen anzufassen. Dabei riß er ein Stück Stoff aus seinem Paletot. Als er hinausrennen wollte, stieß er mit der Stirn gegen einen Kleiderhaken und bekam eine dicke Beule; als er daraufhin jäh zurückweichen wollte, ritzte er sich den Arm am Wandschirm beim Klavier auf; er wollte sich auf das Klavier stützen, als ihm zu allem Unglück der Deckel auf die Hände fiel und seine Finger einquetschte; er raste wie ein Irrer aus dem Büro und hatte es auf der Treppe so eilig, daß er sämtliche Stufen vom ersten Stock bis zum Parterre auf seinem Allerwertesten herunterrutschte. In diesem Augenblick kam ich gerade mit meiner Mutter vorbei. Wir liefen zu ihm, um ihn aufzuheben. Er war völlig zerschunden und blutete im Gesicht, was uns große Angst einjagte. Aber da lächelte er uns schon an und rief: ›Gott sei Dank, daß ich so billig davongekommen bin!‹ Wir fragten wieso, und da erzählte er uns, was für einen Schreck es ihm versetzt habe, hinter dem Perser das Phantom zu erblicken. ›Das Phantom mit dem Totenkopf, genau so wie Joseph Buquet es beschrieben hat!‹«
Ein entsetztes Gemurmel erhob sich, nachdem die Jammes ganz außer Atem am Ende ihrer Geschichte angelangt war, denn sie hatte sie so schnell heruntergerasselt, als folgte ihr das Phantom auf den Fersen. Dann trat eine Stille ein, die die kleine Giry halblaut brach, während die Sorelli höchst erregt ihre Nägel polierte.
»Joseph Buquet sollte lieber den Mund halten«, verkündete das spindeldürre Ding.
»Warum denn«, fragten die anderen.
»Das ist Mamas Meinung«, antwortete Meg diesmal ganz leise, wobei sie sich umschaute, als fürchtete sie, daß fremde Ohren lauschten.
»Und warum ist das die Meinung deiner Mutter?«
»Weil … weil … Ach, nichts.«
Die geheimnisvolle Verschwiegenheit brachte die neugierigen Balletteusen so zur Verzweiflung, daß sie die kleine Giry bestürmten und anflehten, weiterzuerzählen. Schulter an Schulter beugten sie sich bettelnd und bestürzt über sie. Sie steckten sich gegenseitig mit ihrer Angst an, was sie einerseits genossen, was aber andererseits das Blut in ihren Adern erstarren ließ.
»Ich habe geschworen, kein Wort zu sagen«, seufzte Meg.
Aber sie ließen ihr keine Ruhe und versprachen, das Geheimnis genau so gut zu hüten wie Meg, die darauf brannte, das zu erzählen, was sie wußte. Da fing Meg an, ohne die Augen von der Tür abzuwenden:
»Also … es dreht sich um die Loge.«
»Welche Loge?«
»Um die Loge des Phantoms!«
»Hat denn das Phantom eine Loge?«
Bei der Vorstellung, daß das Phantom eine Loge hatte, konnten die Tänzerinnen ihr wonnevolles Gruseln nicht unterdrücken. Sie seufzten leise und sagten:
»Ach, mein Gott! Erzähl weiter! … Erzähl schon! …«
»Nicht so laut!« befahl Meg. »Es ist Loge Nr. 5, ihr wißt schon, die erste Proszeniumsloge links.«
»Unmöglich!«
»Und doch ist es so … Mama ist dort Schließerin … Ihr habt mir doch geschworen, darüber zu schweigen?«
»Ja doch, weiter! …«
»Das ist also die Loge des Phantoms … Niemand außer dem Phantom ist seit einem Monat dort gewesen, und der Verwalter hat die Anweisung erhalten, sie nicht mehr zu vermieten …«
»Kommt das Phantom wirklich hin?«
»Und ob!«
»Demnach kommt jemand hin?«
»Aber nein! … Das Phantom kommt zwar hin, aber niemand ist dort.«
Die Balletteusen tauschten Blicke. Wenn das Phantom in die Loge kam, mußte man es sehen, denn es trug einen Frack und hatte einen Totenkopf. Das machten sie Meg klar, aber die entgegnete ihnen:
»Das ist es ja eben! Man sieht das Phantom nicht! Und es hat weder Frack noch Kopf. Alles, was man über seinen Totenkopf oder über sein Flammengesicht erzählt, ist reine Erfindung. Das alles hat es gar nicht … Man hört es nur, wenn es in der Loge ist. Mama hat es nie gesehen, wohl aber gehört. Mama weiß es genau, denn sie gibt ihm das Programm.«
Die Sorelli glaubte, einschreiten zu müssen.
»Kleine Giry, du machst dich über uns lustig.«
Da brach die kleine Giry in Tränen aus.
»Ich hätte lieber den Mund halten sollen … Wenn Mama je davon erfährt! … Aber bestimmt hat Joseph Buquet unrecht, sich in Dinge zu mischen, die ihn nichts angehen … Das bringt Unglück … Mama hat erst gestern gesagt …«
In diesem Augenblick erklangen schwere, hastige Schritte im Korridor, und eine keuchende Stimme rief:
»Cécile! Cécile! Wo bist du?«
»Das ist Mamas Stimme!« stieß die Jammes hervor. »Was ist denn los?«
Sie öffnete die Tür. Eine brave Frau von der Statur eines Dragoners stürzte in die Garderobe und sank stöhnend in einen Sessel. Sie rollte irr mit den Augen, die ihr krebsrotes Gesicht unheilvoll beleuchteten.
»Was für ein Unglück!« sagte sie. »Was für ein Unglück!«
»Was? Was denn?«
»Joseph Buquet …«
»Was ist denn mit Joseph Buquet?«
»Joseph Buquet ist tot!«
Bestürzte Proteste, wirre Fragen nach Einzelheiten erfüllten die Garderobe …
»Ja … in der dritten Versenkung hat man ihn erhängt aufgefunden! … Aber das Schrecklichste«, fuhr die brave Frau atemlos fort, »das Schrecklichste daran ist, daß die Bühnenarbeiter, die seine Leiche gefunden haben, behaupten, in der Nähe der Leiche ein Geräusch gehört zu haben, das wie eine Totenklage klang!«
»Das ist das Phantom!« entschlüpfte es gleichsam gegen ihren Willen der kleinen Giry, aber sie faßte sich sofort wieder und preßte die Fäuste vor den Mund: »Nein! … Nein! … Ich habe nichts gesagt! … Ich habe nichts gesagt!«
Ihre Gefährtinnen flüsterten erschrocken:
»Natürlich ist es das Phantom!«
Die Sorelli erblaßte. »Ich werde außerstande sein, meine Abschiedsrede zu halten«, sagte sie.
Jammes' Mama äußerte ihre Meinung, während sie ein Gläschen Likör leerte, das auf einem Tisch herumstand: »Dahinter muß das Phantom stecken …«
Es kam nie klar zu Tage, wie Joseph Buquet den Tod fand. Das Ergebnis der Untersuchung lautete auf Selbstmord.
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