Er frug nach ihrer Heimat und nach den Ihrigen, und sie beantwortete die Fragen ohne Rückhalt, erzählte auch manches freiwillig, da vielleicht noch niemand, seit sie unter Fremden ihr Brot verdiente, sich so teilnehmend nach diesen Dingen erkundigt hatte. Sie war das Kind armer Bauersleute, die einen Teil des Jahres im Tagelohn arbeiten mußten. Nicht nur die acht Kinder, Söhne und Töchter, sondern auch die Eltern waren wohlgestaltet große Leute, ein Geschlecht, dessen ungebrochene Leiblichkeit noch aus den Tiefen uralten Volkstumes hervorgegangen. Nicht so verhielt es sich mit dem Seelenwesen, der Beweglichkeit, der moralischen Widerstandskraft und der Glücksfähigkeit der großwüchsigen Familie. In Handel und Wandel wußten sie sich nicht zeitig und aufmerksam zu kehren und zu drehen, den Erwerb vorzubereiten und zu sichern, und statt der Not gelassen aus dem Wege zu gehen, ließen sie dieselbe nahe kommen und starrten ihr ratlos ins Gesicht. Der Vater war durch einen fallenden Waldbaum verstümmelt, die lange Mutter voll bitterer Worte und nutzloser Anschläge; zwei Söhne standen im Militärdienste, der dritte half zu Hause, und die fünf Töchter lebten meistens zerstreut als Dienstmägde und mit verschiedenen Schicksalen, die nicht alle erfreulich oder kummerlos waren für sie und die Angehörigen.

Ungefähr so gestaltete sich das Bild, das Erwin den Worten der Magd entnahm, beinahe das Bild verfallender Größe, welche ihre Sterne verlassen haben, eines Geschlechtes, das im Laufe der Jahrhunderte vielleicht seine Freiheit dreimal verloren und wiedergewonnen hatte, zuletzt aber nichts mehr damit anzufangen wußte, da es über den Leiden des Kampfes das Geschick verloren. Oder war es zu vergleichen mit einem verkommenen Adelsgeschlechte, das sich in die Lebensart des Jahrhunderts nicht finden kann? Aus den unzusammenhängenden Mitteilungen schloß er aber auch, daß Regine, obgleich das jüngste der Kinder, gewissermaßen das beste, nämlich der stille, anspruchslose Halt der Familie war, an welchen sich alle wendeten, und das deshalb so ärmlich gekleidet ging, weil es alles hergab, was es aufbrachte, während die andern Schwestern nicht ermangelten sich aufzuputzen, so gut sie es vermochten.

Auch heute war sie wieder in Anspruch genommen worden. Erst neulich hatte sie fast ihren ganzen Vierteljahrslohn den Eltern gebracht, da eine der Töchter in übeln Umständen heimgekommen. Jetzt wurde der Vater von einer nicht eben großen, aber dringenden Schuld geplagt und hatte durch die Mutter dem Dragoner schreiben lassen, daß er entweder selbst etwas Geld zu entlehnen trachten oder aber zu Regine gehen solle, daß diese helfe. Natürlich konnte der Soldat nichts tun, denn er hatte genug zu schaffen, mit kümmerlichen Entlehnungen seinen Sold zu ergänzen. Darum war er zur Schwester herübergekommen, und diese empfand zur übrigen Sorge den Verdruß über die fruchtlosen Reisekosten des Bruders, so klein sie waren, weil sie im Augenblicke auch nicht helfen konnte. Sie hatte darum der Mutter geschrieben, man müsse unter allen Umständen einige Wochen Frist zu erlangen suchen; vorher dürfe sie ihre Herrschaft nicht schon wieder um Geld angehen. Auch hatte sie bei diesen Aussichten bereits seit dem heutigen Vormittage auf den kühnen Plan verzichtet, sich im Herbst einmal ein wollenes Kleid machen zu lassen, wie andere ordentliche Mädchen es im Winter trugen.

Als Erwin sie zum ersten Mal soviel hintereinander sprechen hörte, wurde er von der weichen Beweglichkeit ihrer Stimme angenehm erregt, da die traulichen Worte, je mehr sie in Fluß gerieten, immer mehr einen der schönen Gestalt entsrprechenden Wohlklang annahmen, den vielleicht noch niemand im Hause kannte. Aber noch wärmer erregte ihn der Gedanke, daß der Not des guten Wesens so leicht zu steuern sei; um sie jedoch nicht allfällig sofort zu verscheuchen oder argwöhnisch zu machen, unterließ er für einmal jedes Anerbieten einer Hilfe und begnügte sich mit ein paar leichthin tröstenden Wlrten: das sei ja alles nicht so betrüblich, wie es aussehe, und werde sich schon ein Ausweg finden, sie solle nur so gut und brav bleiben, und so weiter. Ihr düster gewordenes Angesicht hellte sich auch zusehends auf, so freundlich wirkte der ungewohnte Zuspruch auf ihr einsames Gemüt, und gewiß zehnmal wohltuender, als wenn er sofort die Börse gezogen und sie gefragt hätte, wieviel sie bedürfe.

Es lief indessen doch nocht ohne Bedenklichkeiten ab. Denn als sie, über die so schnell verflossene Stunde erschreckend, sich entfernen wollte und die Zimmertüre öffnete, hörte man von der Treppe her ein Geräusch von Weiberstimmen. Es waren die übrigen Dienstboten des Hauses, die ihre Schlafstellen aufsuchten, und es schien allerdings nicht geraten, daß Regine in diesem Augenblicke aus der Türe des fremden Herrn und Hausgenossen trat. Sie drückte ängstlich die Türe wieder zu und blickte dabei den Herrn Erwin Altenauer leicht erblassend an, ungefähr wie wenn es an einem Frühlingsabende schwach wetterleuchtet, und Erwin half ihr wortlos auf das Verhallen der Mädchenstimmen lauschen. In diesem Augenblicke sahen sie sich an und wußten, daß sie allein zusammen seien und ein Geheimnis hatten, wenn auch ein unschuldiges. Als man nichts mehr hörte, öffnete Erwin sachte die äußere Türe und entließ die schöne große Jungfrau mit ihrem Lämpchen. Mit milden klugen Augen, ein wenig traurig wie immer, nickte sie ihm gute Nacht; etwas Neuartiges lag in ihrem Blicke, das ihr wohl selbst nicht bewußt war; doch flackerte das Flämmchen ihrer bescheidenen Lampe hell und tapfer in der Zugluft, welche durch das Treppenhaus wehte, weil die Vorgängerinnen wahrscheinlich die Bodentüre offengelassen.

Es vergingen nicht viele Tage, bis es Erwin gelang, das Mädchen mit seinem Lämpchen abermals in sein Zimmer zu locken, und bald stellte sich die Gewohnheit ein, daß Regine jeden Abend ein halbes oder auch ein ganzes Stündchen bei ihm eintrat, bald vor dem Aufstieg der anderen Mägde, bald nach demselben; wahrscheinlich war das bewahrte Geheimnis, die Heimlichkeit der vorzüglichste Anreiz, welcher der guten Freundschaft und dem Wohlgefallen der jungen Leute den Charakter einer Liebschaft gab. Regine war aber so ganz von Vertrauen zu dem stets besonnenen und an sich haltenden Manne erfüllt, daß sie alle Bedenken aus den Augen setzte und sich rückhaltlos dem Vergnügen hingab, die kurzen Stunden eines bessern Daseins zu genießen. Sie war, mit Verlaub zu sagen, Weib genug, um von ihrer günstigen Erscheinung zu wissen; aber mit um so größerer Dankbarkeit empfand sie zum ersten Mal die Ehre, die ein gesitteter Mann ihrer Schönheit antat, ohne daß sie wie eine gescheuchte Katze sich zu wehren brauchte. Erwin aber tat ihr die Ehre an, weil er bereits den Gedanken großzog, sich hier aus Dunkelheit und Not die Gefährtin zu holen.

Also lebten sie in rein menschlicher Lebensluft so beglückt, wie zwei ebenbürtige Wesen in stiller Heimlichkeit es nur sein konnten; Regine nur die gegenwart genießend, ohne Hoffnung für die Zukunft, Erwin zugleich von frohen Ahnungen dessen bewegt, was noch kommen mochte. Als er sie eines Abends bei guter Gelegenheit überredete, nur der Eltern wegen der ersehnten Hilfe zu gedenken, und sie zwang, zu schreiben und sogleich die nötige Barschaft zu verpacken, die ihm lächerlich klein erschien, da fügte sie sich mit geheimer Zärtlichkeit des Herzens nicht aus Eigennutz, sondern weil es von ihm und nicht von einem andern kam. Diesmal las er den Brief, den sie schrieb, und sah, daß die Sätze allerdings kurz und mager waren, wie eben das Volk schreibt; allein er entdeckte nicht einen einzigen Fehler gegen Rechtschreibung und Sprachlehre und auch keinen gegen Sinn und Gebrauch der Sprache.

›Sie schreiben ja wie ein Aktuarius!‹ sagte er, indem ein Strahl von Freude seine Augen erhellte.

›O wir hatten einen guten Schulmeister!‹ erwiderte sie, froh über sein Lob; ›aber das ist nichts, ich habe eine Schwester, die schreibt im Umsehn ganze Briefe voll Torheiten ohne alle Fehler; wenn sie nur sonst recht täte!‹ schloß sie mit einem Seufzer. Wie sich später erwies, reiste nämlich die Schwester auf Liebschaften herum und stellte ihre Schönheit nicht unter den Scheffel. Auch war sie schon einmal mit einme kleinen Kinde heimgekommen.

Zum Schreiben hatte Regine jetzt gesessen, was sie in Erwins Zimmer noch nie getan. Sie nahm eine amerikanische Zeitung in die Hand, die auf dem Tische lag, und versuchte zu lesen.

›Das ist Englisch!‹ sagte Erwin, ›wollen Sie's lernen? Dann können Sie mit mir nach Amerika kommen und einen reichen Mann heiraten!‹

Sie errötete stark. ›Lernen möcht ich es schon‹, sagte sie, ›vielleicht fahr ich doch einmal hinüber, wenn es hier zu arg wird!‹

Erwin sprach ihr einige Worte vor; sie lachte, bemühte sich aber, in den Geist der wunderbaren Laute einzudringen, und es gelang ihr noch am gleichen Abend eine Reihe von Worten richtig zu wiederholen und das Alphabet englisch auszusprechen.