Der eine nannte sie Liebchen, der andere Schätzchen, dieser Gretchen, jener Mariechen; dann brachten sie ihr ein halblautes Ständchen, und was solcher Kindereien mehr waren; sowie aber einer die Stufen hinansprang, um eine Liebkosung zu wagen, lehnte sie den Angriff mit einer ruhigen Bewegung des freien Armes ab; denn mit der andern Hand hielt sie den von ihr selbst blankgefegten Türknopf gefaßt. Wenn nun einer nach dem andern die Stufen rückwärts hinabstolperte, so lachte der Haufen mit großem Geräusch, ohne daß die Bedrängte darüber ein Vergnügen empfand; vielmehr stieg sie jetzt selbst hinunter und suchte zu entkommen. Aber die Studenten riefen: ›Die Löwin will hinaus! Laßt sie nicht durchbrechen!‹ und schlossen den Ring nur um so dichter.

In diesem Augenblicke drang Erwin, der dem Spiel schon ein Weilchen ganz erstaunt zugesehen, durch die Leute, ergriff die zitternde Magd bei der Hand und führte sie in das Haus, der er mit einer Drehung seines Schlüssels rasch öffnete und ebenso rasch wieder verschloß. Das war so schnell geschehen, daß die Nachtschwärmer ganz verblüfft dastanden und nichts Besseres tun konnten, als ihres Weges zu ziehen.

Auf dem Flur, wo jederzeit des Nachts Leuchter bereitstanden, zündete Erwin sein Licht an und teilte das Flämmchen mit der aufatmenden Magd, welche froh war, sich geborgen zu wissen und die Herrschaft gebührlicherweise in der Küche erwarten zu können. Und wie es der Welt Lauf ist, wurde sie von der Sprödigkeit verlassen, die sie soeben noch vor der Türe aufrecht gehalten, und sie litt es, als Erwin ihr mehr schüchtern als unternehmend Hand und Wange streichelte und dies nur einen Augenblick lang; denn obgleich ihr Sonntagskleid fast so dürftig war wie der Werktagsanzug, vom billigsten Zeuge und der ärmlichsten Machenschaft, so verboten doch Form und Ausdruck des Gesichtes die unzarte Berührung jedem, der nicht eben zu den angetrunkenen Gesellen gehörte, und dennoch schien dies Gesicht die Demut selber zu sein.

Von diesem Abend an nahm die stille Erscheinung Erwins Gedanken schon häufiger in Anspruch, und statt ihnen zum bloßen Ruhepunkt zu dienen, zog sie dieselben an sich, auch wenn sie anderwärts verpflichtet waren. Das verspürte er in wenigen Tagen, als er am Fuße der Treppe einen baumlangen Reiterkorporal bei ihr stehen sah, der, auf den schweren Pallasch gestützt, mit Reginen sprach, während sie nachdenklich an einem Postamente des Geländers lehnte. Erwin merkte im Vorübergehen, daß ein leichtes Rot über ihr Gesicht ging, und schloß daraus auf eine Liebeschaft. Das aber störte ihm so alle Ruhe, daß er nach einer halben Stunde das Haus wieder verließ, obgleich niemand mehr im Flur stand, und dermaßen in steter Bewegung den Tag zubrachte. Vergeblich sagte er sich, es sei ja der prächtigen Person nur von Herzen zu gönnen, wenn sie einen so stattlichen Liebsten besitze, der auch ein ernster Mann zu sein schien, wie er in der Schnelligkeit gesehen. Der Umstand, daß es in der Stadt keine Garnison gab und der Reitersmann also von auswärts gekommen sein mußte, ließ das Bestehen eines ernstlichen Liebesverhältnisses noch gewisser erscheinen. Aber nur um so trauriger ward ihm zu Mut. Umsonst fragte er sich, ob er denn etwas Besseres wisse für das Mädchen, ob er sie selbst heimführen würde? Er wußte keine Antwort darauf. Dafür wurde die schöne Gestalt durch das Licht einer Liebesneigung, die er sich recht innig und tief, so recht im Tone deutscher Volkslieder vorstellte, von einem romantischen Schimmer übergossen, der die erwachende Trauer des Ausgeschlossenseins noch dunkler machte. Denn an einem offenen Paradiesgärtlein geht der Mensch gleichgültig vorbei und wird erst traurig, wenn es verschlossen ist.

Früher als gewöhnlich verließ er am Abend seine Gesellschaft und suchte seine Wohnung auf. Da holte er vor der Türe, die zu seinen Zimmern führte, unversehens die Regine ein, welche zu ihrer Schlafkammer in den Dachräumen hinaufstieg. Sie hielt neben dem Lichte einen kleinen Bogen Briefpapier in der Hand. Der war ihr soeben auf den Boden gefallen, dabei leicht beschmutzt und auch etwas zerknittert worden, und sie besah sich den Schaden, fügte aber sogleich noch einen Ölfleck hinzu von dem Küchenlämpchen her, das ihr von der Herrschaft gegönnt war.

›Was haben Sie da für einen Verdruß, gute Regine?‹ fragte Erwin, indem er die Türe aufschloß.

›Ach Gott‹, sagte sie, ›ich soll einen Brief schreiben und habe mir ein Blatt Papier dazu erbeten; und jetzt ist es schon verdorben, eh ich nur oben bin!‹

›Kommen Sie mit mir herein, ich geb Ihnen ein anderes!‹ versetzte er, und sie ging mit gutem Vertrauen mit ihm, blieb aber bescheiden an der Zimmertür stehen, während er ein Büchlein des schönsten Papieres zurechtmachte. ›Haben Sie denn auch Tinte und Federn?‹

›Etwas Tinte habe ich in einem Fläschchen, freilich halb eingetrocknet, und eine kritzliche, kratzliche Stahlfeder ist auch noch da!‹ erwiderte sie.

›So nehmen Sie hier von diesen Federn mit und holen Sie sich Tinte, oder nehmen Sie gleich die Flasche, die Sie ja wiederbringen können. Haben Sie auch einen Tisch zum Schreiben?‹

›Leider nein, nur meine Kleiderkommode!‹

›Ei, so schreiben Sie hier an diesem Tisch! Ich werde Sie nicht stören und Sie haben sich keineswegs zu scheuen! Oder mögen Sie am Pult schreiben, so sind Sie gerade noch groß genug dazu.‹

Er zündete gleichzeitig eine Lampe an, die helles Licht verbreitete, und wendete sich dann wieder zu der schweigenden Person, deren Gesicht, wie am Tage schon einmal, die leichte Röte überflog, mit den Worten: ›Sagen Sie, Regine, der schöne Dragoner, der heute bei Ihnen war, ist natürlich Ihr Schatz? Da ist Ihnen wahrhaftig Glück zu wünschen!‹ Welche Worte er mit veränderter, etwas unsicherer Stimme hervorbrachte, wie wenn er in Herzensangelegenheiten vor einer großen Weltdame stände.

Das Rot in ihrem Gesichte wurde tiefer und spiegelte sich in dem seinigen, das trotz seiner acht- oder neunundzwanzig Jahre ebenfalls rötlich anlief. Zugleich aber blitzten ihre Augen nicht ohne einige Schalkheit der harmlosesten Art zu ihm hinüber, als sie antwortete: ›Das war ein Bruder von mir!‹ Ob sie im übrigen einen Schatz besitze oder nicht, vergaß sie zu sagen. Auch verlangte Erwin diesmal nichts weiteres zu erfahren, sondern schien mit dem Bruder so vollkommen zufrieden, daß seine anbrechende Heiterkeit unverkennbar war und auch dem Mädchen das Herz leicht machte. Ehe sie sich dessen versah, stand sie am dem Stehpulte und schrieb ihren Brief. Sie schrieb, ohne sich zu besinnen, in schönen geraden Zeilen eine Seite herunter und faltete das Blatt, ohne das Geschriebene nochmals anzusehen. Erwins Vergnügen, ihr von einem Sofa aus gemächlich zuzuschauen, war daher schon vorbei. Er gab ihr einen Umschlag und sie schrieb, wie er nun in der Nähe sah, mit regelmäßigen sauberen Zügen die Adresse an ihre Mutter.

›Wollen Sie gleich siegeln?‹ fragte er, was sie dankbar bejahte. Er bot ihr eine Achatschale hin, worin ein Siegelring und mehrere Petschafte lagen mit fein geschnittenen Wappen, Namenszügen oder antiken Steinen, und lud sie ein, sich ein Siegel zu wählen. Nach Jahren, als sich das Zukünftige begeben hatte, erinnerte er sich mit Wehmut des zartsinnigen Zuges, wie das unwissende junge Weib sich scheute, eines von den kostbaren fremden Siegeln zu gebrauchen, und wünschte, mit dem zinnernen Jackenknopfe zu petschieren, den sie zu diesem Zwecke aufbewahre. Es sei ein kleiner Stern darauf abgebildet.

›Damit kann ich auch dienen!‹ rief er und zog seinen goldenen Bleistifthalter aus der Tasche; das obere Ende desselben war wirklich mit einem runden Plättchen versehen, das einen Stern zeigte und zum Versiegeln eines Briefes tauglich war. Das ließ sich Regine gefallen. Erwin erwärmte das hochrote Wachs und brachte es auf den Brief; Regine drückte den Stern darauf, und als das schwierige Werk vollbracht war, atmete sie bedächtig auf und sah ihn mit einem treuherzigen Lächeln an.

Den Brief in der Hand haltend, konnte sie jetzt füglich gehen; doch wußte der junge Mann sie mit einer Frage aufzuhalten, an die sich eine andere und eine dritte reihte, und so stand Regine an derselben Stelle, bis eine gute Stunde verflossen war, und plauderte mit ihm, der an seinem Arbeitstische lehnte.