Aber auch wenn von dem inneren Ringen und Kämpfen einmal ein Wort oder Urteil an die Oberfläche dringt, verwundert es die Umwelt und wird zu Annes tiefem Schmerz als »vorlaut« oder »eingebildet« gewertet. Das gibt ihr ein Gefühl der Fremdheit. »Ich möchte den lieben Gott bitten, mir eine andere Natur zu schenken, die nicht alle gegen mich aufbringt. Meine Natur ist mir gegeben, aber ich bin nicht schlecht, ich fühle es.«
Auf drei Wegen sehen wir diesen wachen Geist, diese der Empfindung offene Seele suchend wandern. Da ist zunächst methodische Arbeit in allen Fächern ihres so schroff abgebrochenen Schullebens, wobei vor allem die Geschichte sie fesselt. Ihr Ziel ist, Journalistin zu werden, wozu sie viele Kenntnisse erwerben will. Da ist ferner ihre Liebe zur Natur, von der sie in der Verbannung so gänzlich abgeschnitten ist. »Ich fühle mich wie ein Singvogel, dem man die Flügel beschnitten hat und der im Dunkeln gegen die Stangen seines engen Käfigs anfliegt.« Zuweilen schleicht sie sich wohl auf den Speicher und schaut in den sternbesäten Nachthimmel hinauf.
Und endlich kreist ihr Fühlen und Denken um die Verwirklichung des Guten in ihr, um das Vertrauen zu Gott, der sie dahin geleiten soll.
»Ich bin selbstsüchtig und feige! Warum drehen sich meine Träume und Gedanken nur um alles Schwere, so daß ich oft herausschreien möchte? Weil ich trotz allem noch nicht das rechte Gottvertrauen habe! Er hat mir so viel gegeben, was ich gar nicht verdient habe, und doch mache ich noch jeden Tag etwas falsch!«
»Wenn man an seine Nächsten denkt, müßte man weinen. Eigentlich müßte man den ganzen Tag weinen. So bleibt nur das Gebet und die Bitte zu Gott, daß er ein Wunder geschehen lasse und einige von ihnen am Leben erhalte! Und ich bete aus tiefstem Herzen.«
Armes Kind! Arme Anne! Die Knospe wurde abgerissen, der man Blühen und Fruchttragen gewünscht hätte. Es sind die Ansätze geblieben, auf die man in diesen Blättern liebevoll und erschüttert die Augen richtet.
Marie Baum

Tagebuch

12. Juni 1942
Ich hoffe, daß ich Dir alles anvertrauen kann, wie ich es bisher noch niemals konnte, und ich hoffe, daß Du mir eine große Stütze sein wirst.
Sonntag, 14. Juni 1942
Am Freitag wurde ich schon um 6 Uhr wach. Das war begreiflich, denn ich hatte Geburtstag. Aber so früh durfte ich nicht aufstehen und mußte meine Neugier noch bezähmen bis dreiviertel sieben. Dann hielt ich es aber nicht mehr länger aus. Ich lief ins Eßzimmer, wo Mohrchen, unser kleiner Kater, mich mit heftigen Liebkosungen begrüßte. Nach sieben Uhr ging ich zu den Eltern und dann mit ihnen ins Wohnzimmer, um meine Geschenke anzusehen und auszupacken. Dich, mein Tagebuch, sah ich zuerst, und das war sicher das schönste Geschenk. Dann hatte ich noch einen Strauß Rosen, eine Kaktee, einige Zweige Pfingstrosen. Das waren die ersten Blumengrüße, aber später kam noch viel mehr dazu. Von Vater und Mutter habe ich sehr viel bekommen, und auch meine Freunde haben mich sehr verwöhnt. So bekam ich u.a. die »Camera Obscura« (Ein in Holland sehr bekanntes Buch), ein Gesellschaftsspiel, viele Näschereien, ein Geduldspiel, eine Brosche, die »Holländischen Sagen und Legenden« von Joseph Cohen und noch ein entzückendes Buch, »Daisys Ferienreise ins Gebirge«, und Geld. Dafür habe ich mir dann noch die griechischen und römischen Heldensagen gekauft. Prima!
Dann kam Lies, um mich abzuholen, und wir gingen zur Schule. Zuerst spendierte ich Bonbons für die Lehrer und meine Mitschüler (Dies ist in Holland Sitte an Geburtstagen), und dann ging es an die Arbeit.
Nun Schluß. Ich bin so froh, daß ich Dich habe!
Montag, 15. Juni 1942
Samstag nachmittag hatte ich Geburtstagsgesellschaft. Wir haben einen Film vorgeführt, »Der Leuchtturmwächter« (mit Rin-tin-tin), der meinen Freundinnen sehr gefallen hat.
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