Den inneren gab es noch; er zog sich in einer Breite von vierzig Fuß – inzwischen allerdings nur noch wenige Fuß tief – rund um das ganze Haus. Ein kleiner Bach speiste ihn und floß jenseits des Grabens weiter, so daß der Wasserstreifen zwar trüb, aber keineswegs faulig oder ungesund war. Die Fenster des Erdgeschosses lagen einen Fuß über der Wasseroberfläche. Der einzige Zugang zum Haus führte über eine Zugbrücke, deren Winde und Ketten lange Zeit vor sich hin gerostet hatten und zerbrochen waren. Die neuen Besitzer des Manor House hatten jedoch diese Mängel mit charakteristischer Energie behoben, und die Zugbrücke ließ sich nicht nur wieder hochziehen, sondern wurde tatsächlich jeden Abend hochgezogen und jeden Morgen gesenkt. Diese Erneuerung eines Brauches aus alten, feudalen Tagen verwandelte das Manor House nachtsüber in eine Insel – ein Umstand, der von großer Bedeutung war für jenes Rätsel, welches binnen kurzem die Aufmerksamkeit von ganz England auf sich ziehen sollte.
Das Haus hatte einige Jahre leergestanden und zu einer pittoresken Ruine zu zerfallen gedroht, bevor die Familie Douglas es in Besitz nahm. Diese bestand lediglich aus zwei Personen: John Douglas und seiner Frau. John Douglas war ein bemerkenswerter Mann, sowohl dem Charakter wie seiner Erscheinung nach; er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen und hatte ein verwittertes Gesicht mit stark ausgeprägten Kieferknochen, einem angegrauten Schnurrbart und eigenartig stechenden grauen Augen; seine drahtige, kraftvolle Figur hatte nichts von der Festigkeit und Aktivität ihrer Jugend eingebüßt. Er war fröhlich und freundlich gegen jedermann, aber in seinem Auftreten lag etwas Saloppes, das den Eindruck vermittelte, er habe das Leben in gesellschaftlichen Schichten kennengelernt, die wohl einiges unter dem Niveau der Gutsherren der Grafschaft Sussex lagen. Wurde er von seinen kultivierteren Nachbarn mit einer gewissen Neugier und Reserve betrachtet, erwarb er sich dafür bei den Dörflern alsbald große Beliebtheit, da er alle Unternehmungen im Ort großzügig unterstützte und auch zu Hauskonzerten und sonstigen Festivitäten erschien, wo er mit seinem bemerkenswert volltönenden Tenor jederzeit gern ein Lied zum besten gab. Er schien eine Menge Geld zu haben, das er dem Vernehmen nach auf den kalifornischen Goldfeldern gemacht hatte, und aus seinen Erzählungen und denen seiner Frau wurde klar, daß er einen Teil seines Lebens in Amerika verbracht hatte. Der gute Eindruck, den seine Freigebigkeit und sein demokratisches Auftreten hervorriefen, wurde noch dadurch verstärkt, daß er im Rufstand, Gefahren gegenüber vollkommen gleichgültig zu sein. Obwohl er ein miserabler Reiter war, fand er sich nämlich zu jedem Jagdtreffen ein und nahm in seiner Entschlossenheit, es den Besten gleichzutun, die erstaunlichsten Stürze in Kauf Auch als einmal das Pfarrhaus brannte, zeichnete er sich durch seine Furchtlosigkeit aus; denn er drang wiederholt in das Gebäude ein, um Hab und Gut zu bergen, nachdem die örtliche Feuerwehr es als unmöglich aufgegeben hatte. So kam es, daß sich John Douglas vom Manor House innerhalb von fünf Jahren einen beachtlichen Ruf in Birlstone erworben hatte.
Auch seine Frau war beliebt bei denen, die ihre Bekanntschaft gemacht hatten; englischer Sitte entsprechend kamen jedoch zu Fremden, die sich ohne gesellschaftliche Einführung in der Grafschaft niederließen, nur wenige Besucher – und auch die nur in großen Abständen. Dies machte ihr aber nicht viel aus, da sie von Natur aus zurückgezogen und durch ihren Gatten und häusliche Pflichten allem Anschein nach vollkommen in Anspruch genommen war. Man wußte, daß sie Engländerin war und den damals noch verwitweten Mr. Douglas in London kennengelernt hatte. Sie war eine schöne Frau, hochgewachsen, dunkelhaarig, schlank und gut zwanzig Jahre jünger als ihr Mann; ein Altersunterschied, der die Harmonie ihres Zusammenlebens anscheinend in keiner Weise beeinträchtigte. Die sie am besten kannten, bemerkten jedoch manchmal, daß das Vertrauen zwischen den beiden nicht vollkommen zu sein schien, denn in Hinsicht auf die Vergangenheit ihres Gatten war die Frau entweder sehr zurückhaltend oder aber, was wahrscheinlicher war, sehr mangelhaft unterrichtet. Auch hatten ein paar Aufmerksame beobachtet und kritisch vermerkt, daß es bei Mrs. Douglas zuzeiten Zeichen einer gewissen nervlichen Anspannung gab und daß sie heftiges Unbehagen erkennen ließ, wenn ihr Gatte einmal besonders lange wegblieb. In einer ruhigen ländlichen Gegend, wo jeder Klatsch willkommen ist, konnte man diese Schwäche der Lady vom Manor House nicht achtlos übergehen, und in der Erinnerung der Leute nahm sie um so mehr Raum ein, als dann jene Ereignisse eintraten, die ihr eine ganz besondere Bedeutung verleihen sollten.
Es gab unter diesem Dach noch eine weitere Person, die sich allerdings nicht ständig dort aufhielt; aber ihre Anwesenheit zur Zeit jener merkwürdigen Begebnisse, die ich nun erzählen will, rückte ihren Namen in den Vordergrund der Öffentlichkeit, Es handelte sich um Cecil James Barker aus Hales Lodge, Hampstead. Cecil Barkers hochgewachsene und schlaksige Gestalt war auf der Hauptstraße der Gemeinde Birlstone ein vertrauter Anblick, denn er war ein häufiger und willkommener Gast im Manor House. Man nahm von ihm um so mehr Notiz, als er der einzige Freund aus der unbekannten Vergangenheit von Mr. Douglas war, der je in dessen neuer englischen Umgebung auftauchte. Barker selbst war unzweifelhaft Engländer, aber aus seinen Bemerkungen ging klar hervor, daß er Douglas in Amerika kennengelernt und dort mit ihm auf vertrautem Fuß gestanden hatte. Er schien ein Mann von beträchtlichem Vermögen zu sein und galt als Junggeselle. Er war etwas jünger als Douglas, höchstens fünfundvierzig – ein hochgewachsener, breitbrüstiger Bursche mit aufrechtem Gang und einem glattrasierten Preisboxergesicht; ein gebieterisches Paar schwarzer Augen unter den dichten, kräftigen schwarzen Brauen hätte ihm auch ohne die Hilfe seiner überaus tüchtigen Hände den Weg durch eine feindliche Menge bahnen können. Er war kein Reiter und ging auch nicht auf die Jagd, sondern brachte seine Tage damit zu, mit der Pfeife im Mund durch das alte Dorf zu schlendern und mit seinem Gastgeber oder – bei dessen Abwesenheit – mit seiner Gastgeberin Ausfahrten in die schöne Umgebung zu machen. »Ein angenehmer, freigebiger Gentleman«, sagte Ames, der Butler.
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