Der Mann hätte einen prächtigen Pfarrer abgegeben mit seinem hageren Gesicht, seinem grauen, ehrwürdigen Haar und der feierlichen Manier, in der er spricht. Als er beim Abschied die Hand auf meine Schulter legte, kam er mir vor wie ein Vater, der seinen Sohn segnet, der sich in die kalte, grausame Welt hinausbegibt.«

Holmes rieb sich frohlockend die Hände.

»Großartig,« rief er, »großartig. Sagen Sie einmal, mein lieber Freund McDonald, diese niedliche und gemütliche Plauderei hat wohl in der Bibliothek des Professors stattgefunden?«

»Stimmt.«

»Ein schöner Raum, nicht wahr?«

»Prachtvoll – hochelegant, Mr. Holmes.«

»Sie saßen seinem Schreibtisch gegenüber?«

»Jawohl.«

»Das Licht in Ihrem Gesicht und seines im Schatten?«

»Nun ja, das dürfte stimmen. Es war am Abend und ich erinnere mich, daß die Studierlampe mir zugedreht war.«

»Selbstverständlich. Bemerkten Sie auch ein Bild an der Wand hinter dem Professor?«

»Mir entgeht nicht so leicht etwas, Mr. Holmes. Wahrscheinlich habe ich das von Ihnen gelernt. Jawohl, ich sah das Bild – eine junge Frauensperson, das Gesicht in die Hände gestützt, den Blick seitwärts gerichtet.«

»Ein Gemälde von Jean Baptiste Greuze.1«

Der Inspektor gab sich alle Mühe, interessiert zu scheinen.

»Jean Baptiste Greuze«, fuhr Holmes fort, die Fingerspitzen der ausgebreiteten Hände aneinandergepreßt und sich dabei weit in seinen Stuhl zurücklehnend, »war ein französischer Maler, der zwischen 1705 und 1800, zu seinen Lebzeiten also in hohem Ansehen stand. Die Nachwelt hat bekanntlich die Geltung, die er schon bei seinen Zeitgenossen hatte, in vollem Maße bestätigt.«

Ein abwesender Blick machte sich in den Augen des Inspektors bemerkbar.

»Wollen wir nicht lieber –,« sagte er.

»Nein, wir wollen nicht, denn wir sind ohnedies dabei,« unterbrach ihn Holmes. »Was ich Ihnen sage, hat ganz unmittelbar Bezug auf das, was Sie das Geheimnis von Birlstone nennen. Tatsächlich möchte ich sagen, daß es geradezu dessen Ausgangspunkt ist.«

»Ihre Gedanken laufen mir zu schnell, Mr. Holmes. Sie lassen meistens ein Glied oder mehrere sogar aus in der Kette, und ich verliere darüber den Anschluß. Was, um des lieben Himmels willen, hat dieser tote Maler mit der Sache in Birlstone zu tun?«

»Für den Detektiv ist Wissen jeder Art nützlich,« bemerkte Holmes. »Selbst die anscheinend belanglose Tatsache, daß im Jahre 1865 das Bild von Greuze, das unter der Bezeichnung. ›Das junge Mädchen mit dem Lamm‹ bekannt ist, bei der Portalis-Auktion nicht weniger als 4000 Pfund brachte, sollte Ihnen zu denken geben.«

Das tat es anscheinend auch. Der Inspektor war höchlich interessiert.

»Vielleicht vergegenwärtigen Sie sich,« fuhr Holmes fort, »daß das Gehalt des Professors aus verschiedenen Nachschlagewerken unzweifelhaft festgestellt werden kann. Es beträgt genau 700 Pfund pro Jahr.«

»Wie konnte er denn dann –«

»Sehr richtig, wie konnte er?«

»Jawohl, das ist sonderbar,« sagte der Inspektor nachdenklich. »Schießen Sie los, Mr. Holmes. Ich bin auf das höchste gespannt. Sie machen derartige Sachen wunderbar.«

Holmes lächelte. Für ehrliche Bewunderung war er in hohem Maße empfänglich, das Kennzeichen einer wahrhaften Künstlernatur.

»Über was wollen Sie etwas hören? Über Birlstone?« fragte er.

»Das hat noch Zeit,« sagte der Inspektor, indem er einen Blick auf seine Uhr warf. »Ich habe einen Wagen unten, und wir brauchen nur zwanzig Minuten bis zum Viktoriabahnhof. Ich möchte über dieses Bild etwas Näheres wissen. – Ich war der Ansicht, Sie und Professor Moriarty seien sich noch nicht begegnet.«

»So ist es auch.«

»Woher kennen Sie dann seine Wohnung?«

»Ah, lieber McDonald, das ist etwas anderes. Ich war bereits dreimal in seiner Wohnung. Zweimal wartete ich auf ihn unter verschiedenen Vorwänden, und das letztemal – nun, darüber kann ich mit Ihnen als Amtsperson nicht sprechen. Nur das eine kann ich Ihnen sagen, daß ich mir bei dem letzten Besuch gestattete, seine Papiere durchzugehen, mit den überraschendsten Ergebnissen.«

»Sie haben also kompromittierendes Material gefunden?«

»Nicht das geringste, und gerade das war das Überraschende daran.