Los, los, setz dich richtig hin, Faulpelz!« Rasch nahm er wieder seine Palette, er packte seine Pinsel und fügte hinzu: »Dubuche kommt uns heute abend abholen, nicht wahr?«

»Ja, gegen fünf Uhr.«

»Na schön! Das ist ausgezeichnet, wir gehen dann gleich essen … Bist du endlich soweit? Die Hand mehr nach links, den Kopf weiter vorbeugen.«

Nachdem Sandoz die Kissen richtig hingelegt, hatte er sich in der gewünschten Haltung auf dem Diwan niedergelassen. Er kehrte Claude den Rücken zu, aber die Unterhaltung ging nichtsdestoweniger noch eine Weile weiter, denn er hatte an diesem Morgen einen Brief aus Plassans erhalten, aus der kleinen Stadt in der Provence9, wo der Maler und er sich in der achten Klasse kennengelernt hatten, als sie ihre kurzen Hosen auf den Bänken des städtischen Gymnasiums abwetzten. Dann verstummten beide. Der eine arbeitete, und die Welt war für ihn vergessen, der andere döste vor sich hin, in der schläfrigen Erschöpfung, die einen befällt, wenn man sich längere Zeit nicht rühren darf.

Im Alter von neun Jahren war Claude das Glück widerfahren, aus Paris fortzukommen und in den Winkel der Provence zurückzukehren, wo er geboren war. Seine Mutter, eine brave Wäscherin, die von dem Faulpelz, seinem Vater, sitzengelassen worden war, hatte soeben einen tüchtigen Arbeiter geheiratet, der wie toll in ihre schöne Blondinenhaut verliebt war. Aber trotz beider Arbeitseifer kamen sie nicht mit dem Geld aus. Deshalb waren sie von Herzen gern darauf eingangen, als ein alter Herr von dort unten aufgetaucht war und sie um Claude gebeten hatte, den er bei sich daheim aufs Gymnasium gehen lassen wollte: die großzügige Schrulle eines Sonderlings, eines Gemäldeliebhabers, den die von dem Knirps einst zusammengeklecksten Männerchen sehr beeindruckt hatten. Und bis zur Unterprima, also sieben Jahre lang, war Claude in Südfrankreich geblieben, zunächst als Internatsschüler, dann als Stadtschüler, der bei seinem Gönner wohnte. Eines Morgens hatte man den alten Herrn, quer über seinem Bett liegend, wie vom Blitz getroffen, tot aufgefunden.

Er hinterließ dem jungen Mann testamentarisch ein Vermögen, das ihm tausend Francs Jahreszinsen einbrachte und über das er nach Vollendung seines fünfundzwanzigsten Lebensjahres frei verfügen konnte. Claude, den die Liebe zur Malerei bereits in Fieber versetzte, verließ sofort das Gymnasium, ohne daß er auch nur den Versuch unternehmen wollte, sein Bakkalaureatsexamen10 abzulegen, und eilte nach Paris, wohin ihm sein Freund Sandoz vorausgegangen war.

Auf dem Gymnasium von Plassans hatte es von der achten Klasse an die drei Unzertrennlichen gegeben, wie man sie nannte: Claude Lantier, Pierre Sandoz und Louis Dubuche. Obwohl sie von ganz verschiedener Herkunft, ganz entgegengesetzte Naturen waren, lediglich im selben Jahr in einigen Monaten Abstand geboren, fühlten sie sich sofort einander für immerdar verbunden, zueinander hingezogen durch die geheime Verwandtschaft, die noch unbestimmte Qual gemeinsamen Ehrgeizes, das Erwachen eines überlegenen Verstandes inmitten der rohen Horde abscheulicher Pennäler, von denen sie verprügelt wurden. Der Vater von Sandoz, ein Spanier, der wegen politischer Scherereien nach Frankreich geflohen war, hatte in der Nähe von Plassans eine Papierfabrik eingerichtet, in der von ihm erfundene neue Maschinen liefen; dann war er, verbittert, von der Bosheit der Einheimischen gehetzt, gestorben und hatte seine Witwe in einer so verwickelten geschäftlichen Lage mit einer Reihe so dunkler Prozesse zurückgelassen, daß das ganze Vermögen bei dem Zusammenbruch drauf gegangen war; die Mutter, eine Frau aus der Bourgogne11, die sich von ihrem Groll gegen die Provenzalen überwältigen ließ und an einer langsam fortschreitenden Lähmung litt, an der sie ebenfalls den Provenzalen die Schuld gab, war mit ihrem Sohn nach Paris geflohen; und der Sohn unterhielt sie nun mit seinem dürftigen Einkommen, während in seinem Hirn der Gedanke an literarischen Ruhm spukte. Was Dubuche betraf, so war er der älteste Sohn einer Bäckerin in Plassans, wurde von dieser sehr herben, sehr ehrgeizigen Frau angetrieben und hatte sich erst später seinen Freunden angeschlossen, und er hörte als Architekturstudent die Vorlesungen an der Ecole des BeauxArts12, lebte dabei kümmerlich von den letzten Hundertsousstücken, die seine Eltern mit der Hartnäckigkeit von Juden, die darauf spekulierten, daß ihnen das in der Zukunft dreihundert Prozent Gewinn eintrug, auf ihn setzten. »Alle Wetter!« murmelte Sandoz in dem tiefen Schweigen. »Dir zu sitzen ist nicht bequem! Ich breche mir noch die Handgelenke dabei … Kann ich mich etwas bewegen, he?« Ohne darauf zu antworten, ließ Claude es zu, daß Sandoz sich streckte. Mit breiten Pinselstrichen nahm er die Samtjacke in Angriff. Etwas zurücktretend und mit den Augen zwinkernd, brach er in ungeheures Gelächter aus, denn eine jähe Erinnerung erheiterte ihn.

»Sag mal, du entsinnst dich doch an den Tag in der sechsten Klasse, an dem Pouillaud die Kerzen im Schrank dieses Blödlings Lalubie anzündete? Oh, was Lalubie für einen Schreck kriegte, als er auf sein Katheder kletterte und seinen Schrank aufmachte, um seine Bücher herauszunehmen, und er diese brennenden Kerzen erblickte! – Fünfhundert Verse mußte die ganze Klasse schreiben!«

Von diesem Heiterkeitsanfall angesteckt, hatte sich Sandoz auf den Diwan hintüberfallen lassen, Er nahm wieder die erwünschte Haltung ein und sagte:

»Ach, dieser Tolpatsch, der Pouillaud! – Weißt du, in seinem Brief von heute früh teilt er mir mit, daß Lalubie geheiratet hat. Dieses alte Rindvieh von einem Professor heiratet ein hübsches Mädchen. Aber du kennst sie ja, die Tochter von Galissard, von dem Krämer, die kleine Blonde, der wir Ständchen gebracht haben.«

Die Erinnerungen strömten auf sie ein; Claude und Sandoz fanden kein Ende mehr, der eine war aufgepeitscht und malte in zunehmendem fiebrigem Eifer, der andere, immer noch der Wand zugekehrt, wandte Claude beim Sprechen den Rücken zu, während seine Schultern von Leidenschaft geschüttelt wurden.

Da war zunächst das Gymnasium, das muffige ehemalige Kloster, das sich bis zu den Wällen erstreckte, die beiden mit riesigen Platanen bestandenen Höfe, das grünbemooste, verschlammte Wasserbecken, in dem sie schwimmen gelernt hatten, und die unteren Klassenräume, in denen die Wände vor Nässe troffen, und der vom ständigen Fettgeruch des Abwaschwassers verpestete Speisesaal, und der Schlafsaal der Kleinen, der berüchtigt war wegen der gräßlichen Dinge, die dort passierten, und die Wäscherei, und die Krankenstube, in der zartfühlende Schwestern walteten, Nonnen in schwarzer Tracht, die so sanft wirkten unter ihrer weißen Haube! Was für eine Aufregung, als Schwester Angele, deren Madonnengesicht den Hof der Großen in Aufruhr versetzte, eines Morgens mit Hermeline verschwunden war, einem Dicken aus der Unterprima, der sich aus Liebe mit dem Taschenmesser tiefe Einschnitte auf den Händen beibrachte, damit er zu ihr hinaufgehen und sich von ihr Verbände aus englischem Pflaster13 anlegen lassen konnte.

Dann zog das ganze Personal vorbei, eine jämmerliche, groteske und furchtbare Kavalkade, Profile voller Bosheit und Leid; der Rektor, der sich dadurch zugrunde richtete, daß er Abendgesellschaften gab, um seine Töchter zu verheiraten, zwei große, schöne, elegante Mädchen, die durch abscheuliche Zeichnungen und Kritzeleien auf allen Mauern beleidigt wurden; der Studieninspektor Pifard, dessen berühmte Nase gleich einer Feldschlange hinter den Türen im Hinterhalt lag und schon von weitem seine Anwesenheit verriet; die lange Reihe der Lehrer, von denen jeder einen schimpflichen Spitznamen abbekommen hatte wie einen Dreckspritzer: der gestrenge Rhadamantys14, der nie gelacht hatte; Dreckbart, der die Katheder schwarz machte, weil er ständig seinen Kopf daran rieb; DubetrügstmichAdèle, der Physiklehrer, ein Hahnrei, wie er im Buche steht, dem zehn Generationen von Schlingeln den Namen seiner Frau nachschrien, die, wie es hieß, einst in den Armen eines Karabiniers überrascht worden war; andere noch, Spontini, der wilde Pauker mit seinem korsischen Messer, das vom Blut dreier Vettern rostrot war und das er herumzeigte; der kleine Wachtelschlag, der so gutmütig war, daß er beim Spaziergang das Rauchen gestattete; sogar ein Küchenjunge und die Geschirrspülerin, zwei Scheusale, denen man die Spitznamen Parabolomenos und Paralleluca gegeben hatte und denen man nachsagte, sie hielten ihre Schäferstündchen auf den Gemüseabfällen. Dann kamen die lustigen Streiche, tolle Scherze wurden plötzlich heraufbeschworen, über die man sich noch nach Jahren kugelte vor Lachen. Oh, der Morgen, da man die Schuhe von Totenmimi, auch das Stadtschülergerippe genannt, einem hageren Jungen, der Schnupftabak für die ganze Klasse hereinschmuggelte, im Ofen verbrannt hatte! Und der Winterabend, an dem man Streichhölzer von der Ewigen Lampe in der Kapelle gestohlen hatte, um aus Schilfrohrpfeifen getrocknete Kastanienblätter zu rauchen! Sandoz, der das Ding gedreht hatte, gestand nun ein, wie entsetzt er damals gewesen, wie ihm der kalte Schweiß ausgebrochen war, als er durch den in Finsternis getauchten Chor raste. Und der Tag, an dem Claude den schönen Einfall gehabt hatte, hinten in seinem Pult Maikäfer zu rösten, um zu sehen, ob so was gut schmeckte, wie allgemein gesagt wurde! Ein so scharfer Gestank, ein so dichter Qualm war aus dem Pult gedrungen, daß der Pauker zum Wasserkrug gegriffen hatte, weil er meinte, eine Feuersbrunst sei ausgebrochen! Und die Streifzüge, das Plündern der Zwiebelfelder beim Spaziergang; die Steine, mit denen man die Fensterscheiben einwarf, wobei es als besonders schick galt, wenn einem Löcher glückten, deren Umrisse wie aus der Erdkunde bekannte Landkarten aussahen; die Griechischlektionen, die im voraus in großen lateinischen Buchstaben an die Wandtafel geschrieben und von allen Faulpelzen fließend gelesen wurden, ohne daß der Lehrer etwas merkte; die Bänke vom Hof, die zersägt und dann in einem langen Leichenzug unter Trauergesängen wie die Opfer eines Aufstands um das Wasserbassin herumgetragen wurden. Ach ja, das war eine tolle Geschichte! Dubuche, der den Geistlichen machte, war in das Bassin gefallen, als er Wasser in seine Mütze schöpfen wollte, um ein Weihwasserbecken zu haben. Und das Komischste, das Beste war die Nacht, in der Pouillaud alle Nachttöpfe des Schlafsaals an ein und derselben Schnur, die unter den Betten hindurchging, festgebunden hatte und dann am Morgen, dem ersten Morgen in den großen Ferien, durch den Gang und die Treppen hinunter entfloh und dabei diesen hüpfenden und in Splitter zerstiebenden schrecklichen Steingutschwanz hinter sich herzog.