Den Pinsel hoch erhoben, verharrte Claude, und den Mund vor Lachen aufgerissen, schrie er:
»Dieser Tolpatsch, der Pouillaud! – Und er hat dir geschrieben? Was stellt er denn jetzt an, der Pouillaud?«
»Überhaupt nichts, Alter!« antwortete Sandoz und setzte sich wieder auf seinen Kissen zurecht. »Sein Brief ist blöde! Er beendet sein Jurastudium, er wird dann die Anwaltspraxis seines Vaters übernehmen. Und wenn du den Ton merkst, den der schon an sich hat, ein richtiger Spießer, der sich mausert.«
Es trat erneut Schweigen ein.
Und Sandoz fügte hinzu:
»Ja, siehst du, Alter, davor sind wir bewahrt worden.«
Dann kamen ihnen andere Erinnerungen, solche, bei denen ihnen das Herz höher schlug, Erinnerungen an die schönen Tage in der freien Luft und in der Sonne, die sie dort unten außerhalb des Gymnasiums verlebt hatten. Schon in der Sexta, als sie noch ganz klein waren, hatten sich die drei Unzertrennlichen leidenschaftlich für lange Wanderungen begeistert. Die kürzeste Freizeit nutzten sie aus, gingen meilenweit, wagten sich immer weiter, je größer sie wurden, durchstreiften schließlich die ganze Gegend, machten richtige Reisen, die oft mehrere Tage dauerten. Und sie übernachteten, wie es der Zufall fügte, tief in einem Felsenloch, auf einer gepflasterten, noch brennendheißen Tenne, auf der ihnen das Stroh des gedroschenen Getreides ein weiches Lager war, in irgendeiner menschenleeren Hütte, deren Fliesenfußboden sie mit einer Schicht Thymian und Lavendel bedeckten. Das war ein Fliehen weit fort aus der Welt, ein instinktives Anschmiegen an den Busen der guten Natur, ein unsinniges Schwärmen kleiner Lausbuben für die Bäume, die Wasser, die Berge, für diese grenzenlose Freude, allein und frei zu sein.
Dubuche, der im Internat wohnte, schloß sich den beiden anderen nur in den Ferientagen an. Er war übrigens nicht gut zu Fuß und körperlich träge, wie das oft bei Musterschülern der Fall ist. Aber Claude und Sandoz wurden des Wanderns nicht müde, jeden Sonntag weckten sie einander schon um vier Uhr morgens, indem sie Kieselsteine an die Fensterläden warfen. Vor allem im Sommer träumten sie von der Viorne, dem Wildbach, dessen schmales Band die niedrig gelegenen Wiesen von Plassans durchfloß. Mit knapp zwölf Jahren konnten sie schon schwimmen; und für ihr Leben gern patschten sie auf dem Grunde der Löcher, in denen sich das Wasser staute, im Schlamm herum, verbrachten dort ganze Tage splitternackt, ließen sich auf dem brennendheißen Sand trocknen, um dann wieder hineinzutauchen, lebten im Fluß, lagen auf dem Rücken, auf dem Bauch, durchstöberten das Gras der Uferböschungen, versanken bis zu den Ohren darin und spähten stundenlang nach den Verstecken der Aale aus. Dieses Rieseln reinen Wassers, von dem ihre Leiber in der prallen Sonne troffen, verlängerte ihre Kindheit, verlieh ihnen das frische Lachen ausgerückter Bengel, wenn sie, die bereits junge Männer waren, in den verwirrenden Gluten der Juliabende in die Stadt heimkehrten. Später hatte es ihnen die Jagd angetan, aber eben diese Jagd, die man in jener Gegend betreibt, in der es kein Wild gibt, wo man sechs Meilen zurücklegen mußte, um ein halbes Dutzend Feigenfresser zu erlegen, großartige Streifzüge, von denen sie oft mit leeren Jagdtaschen zurückkehrten, mit einer unvorsichtigen Fledermaus, die sie, als sie in die Vorstadt kamen und die Flinten abschossen, runtergeholt hatten. Ihre Augen wurden feucht bei der Erinnerung an dieses ausschweifende Wandern: sie sahen die unendlichen weißen Landstraßen wieder, die eine Staubschicht wie dichter Neuschnee bedeckte, sie folgten ihnen immer noch, immer noch, waren glücklich, ihre derben Schuhe dabei knarren zu hören; dann schnitten sie den Weg ab, querfeldein über die roten, eisenhaltigen Äcker, über die sie immer noch, immer noch galoppierten; und ein bleierner Himmel, kein Schatten, nichts als gnomenhafte Olivenbäume, nichts als Mandelbäume mit spärlichem Laub, und bei jeder Heimkehr ein köstliches Benommensein vor Erschöpfung, die triumphierende Angeberei, mehr als neulich gewandert zu sein, das Entzücken, nicht mehr zu spüren, daß man ging, vorwärts zu kommen lediglich durch die erworbene Kraft und sich mit irgendeinem schrecklichen Soldatenlied aufzupeitschen, das sie wiegte wie in einem tiefen Traum.
Schon damals nahm Claude außer seinem Pulverhorn und seiner Botanisiertrommel ein Skizzenbuch mit, in das er Ausschnitte des Horizonts zeichnete, während Sandoz stets das Buch eines Dichters in seiner Tasche hatte. Das war romantischer Überschwang, die mit Soldatenzoten abwechselnden geflügelten Strophen, die Oden, die in das große Flimmern der brennendheißen Luft geschleudert wurden; und wenn sie eine Quelle oder vier Weiden, die auf der blendendweißen Erde graue Flecken bildeten, entdeckt hatten, verweilten sie dort, bis die Sterne aufgingen, spielten dort die Dramen, die sie auswendig konnten, sprachen die Rollen der Helden mit machtvoll anschwellender Stimme und die Rollen der Naiven und der Königinnen mit ganz dünnem Flötenstimmchen. An jenen Tagen ließen sie die Spatzen in Ruhe. In dieser entlegenen Provinz hatten sie inmitten der schläfrigen Dummheit der kleinen Städte seit ihrem vierzehnten Lebensjahr so gelebt, abgesondert, von einem Fieber der Begeisterung für Literatur und Kunst verzehrt. Die ungeheure Aufmachung bei Hugo15, die gigantischen Phantasiegebilde, die sich bei ihm mitten im ewigen Kampf der Antithesen ergingen, hatten sie zunächst entzückt wie ein Heldenepos; sie machten heftige Gebärden, sahen die Sonne hinter Ruinen untergehen, sahen das Leben in der falschen und herrlichen Beleuchtung eines Schauspielfinales vorüberziehen. Dann war Musset16 gekommen und hatte sie mit seiner Leidenschaft und seinen Tränen aus dem Gleichgewicht gebracht, sie lauschten ihrem eigenen Herzen, das in ihm schlug, eine menschlichere Welt tat sich auf, die sie durch das Mitleid eroberte, durch den ewigen Schrei des Elends, den sie hinfort aus allen Dingen aufsteigen hörten. Übrigens waren sie nicht sehr wählerisch, sie legten den schönen Heißhunger der Jugend an den Tag, ein rasendes Verlangen nach Büchern, indem sie das Ausgezeichnete und das Schlimme in sich hineinschlangen, waren so gierig darauf, etwas zu bewundern, daß abscheuliche Werke sie oft in die gleiche Schwärmerei versetzten wie reine Meisterwerke.
Und Sandoz sagte es jetzt: diese Vorliebe für große Wanderungen, dieser Heißhunger auf Bücher hatte sie davor beschützt, daß ihre Umwelt sie unweigerlich schläfrig und schlaff machte. Sie gingen niemals in ein Café, bekundeten Abscheu davor, sich auf den Straßen herumzutreiben, behaupteten sogar, sie würden dort umkommen wie in den Käfig gesperrte Adler, als bereits Kameraden von ihnen mit ihren Schuljungenärmeln über die kleinen Marmortische wischten und um die Zeche Karten spielten. Dieses provinzielle Leben, das die jungen Leute schon ganz zeitig mit dem Getriebe seiner Tretmühle erfaßte, der Klub, an den man sich gewöhnte, die Zeitung, die bis zu den Anzeigen Buchstabe für Buchstabe gelesen, die Partie Domino, die immer wieder von vorn begonnen wurde, derselbe Spaziergang auf derselben breiten Straße zur selben Stunde, das schließliche Verblöden unter diesem Mühlstein, der die Hirne platt walzte, empörte sie; sie verwahrten sich dagegen, indem sie die benachbarten Hügel erkletterten, um dort ungeahnte Einsamkeiten zu entdecken, unter dem trommelnden Regen Verse aufsagten und sich nicht unterstellen wollten, weil sie die Städte haßten. Sie nahmen sich vor, am Ufer der Viorne zu kampieren, dort wie Wilde zu leben, die Freude ständigen Badens zu genießen, mit fünf oder sechs Büchern, nicht mehr, die für ihre Bedürfnisse ausgereicht hätten. Das Weib war aus alledem verbannt, sie waren schüchtern und ungeschickt, was sie sich mit der Sittenstrenge von Lausejungen, die sich überlegen fühlten, hoch anrechneten. Claude hatte sich zwei Jahre lang vor Liebe zu einem Hutmacherlehrmädchen verzehrt, dem er jeden Abend von weitem folgte; und niemals hatte er die Kühnheit aufgebracht, das Mädchen anzusprechen. Sandoz träumte von Damen, denen man auf Reisen begegnet, von sehr schönen Mädchen, die in einem unbekannten Wald auftauchten, die sich einen ganzen Tag hingaben und sich dann wie Schatten in der Abenddämmerung verflüchtigten.
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